Ein Artikel aus der Reihe: Frankfurter Zeitungs-Archäologie
Im März 1848 war die Revolution auch in Deutschland erfolgreich gewesen und man war sich einig: wir brauchen eine Nationalversammlung. Dieses demokratisch gewählte Parlament ist dann am 18.Mai 1848 erstmals zusammengetreten und seit nun 175 Jahren blickt die Geschichtsforschung auf dieses Ereignis und das eine Jahr der Nationalversammlung in der Paulskirche zurück.
Direkt im Anschluss an das Scheitern dieses ersten deutschen Versuches einer Volksherrschaft, war jegliches öffentliche Rückerinnern an die Paulskirche illegal und trotzdem stattfindendes Erinnern endete regelmäßig mit Toten und Verletzten. In Frankfurt hatte sich deshalb ein Kreis von 25 Getreuen zusammengefunden, die jedes Jahr am 09.November, dem Tag der Hinrichtung Robert Blums, eine schwarze Fahne als Erinnerungszeichen an einem nur schwer zugänglichen Ort aufhängten. Woran man in dieser Zeit also erinnern wollte, das war die Sache des Volkes, der Versuch eine Demokratie in Deutschland zu errichten.
1873, zur 25. Wiederkehr des Ereignisses, als es in Berlin bei Erinnerungsfeiern immer noch Tote durch Polizeisäbel gab, durfte in Frankfurt erstmals eine offizielle Gedenkveranstaltung stattfinden, an der teilzunehmen nun nicht mehr das Leben, wohl aber die Karriere kosten konnte. Immer noch war es die Demokratie, der man Toasts ausbrachte. Der Nationalstaat bestand nun seit zwei Jahren, der war erreicht, aber unter dem autokratischen Kanzler Bismarck war die Demokratie in weite Ferne gerückt. In Frankfurt war zuvor Geld für ein Grabdenkmal für die "Gefallenen des Volkes" vom 18.September 1848 gesammelt worden und in Form eines roten Obelisken stellte man diesen Stein nun auf dem Frankfurter Hauptfriedhof, genau in die Blickachse der bereits 1849 errichten grauen Gedenksäule für die am selben Tag gefallenen preußischen Soldaten, auf. Von nun an gab es regelmäßige Erinnerungsfeiern auf dem Hauptfriedhof.
1898, zu den 50-Jahrfeiern war erstmals der Vorschlag aufgekommen, aus der Paulskirche ein deutsches Nationaldenkmal zu machen. So weit war man damals aber noch nicht. Kaiser Wilhelm war gerade dabei, aus Deutschland eine Weltmacht zu machen und der Patriotismus stand in höchster Blüte, so dass ein Gedenken an Demokratie und Volksherrschaft vollkommen außen vor blieb. Der gerade neu errichtete Bürgersaal im Römer wurde mit patriotischen Wandgemälden geschmückt und auf dem - damals noch viel engeren - Paulsplatz wurde ein Denkmal errichtet, das Einheitsdenkmal - wieder ein Obelisk, diesmal ein weißer, zur Feier des deutschen Nationalstaates. Allerdings erst, nachdem man jahrelang darum gestritten und diskutiert hatte. Die Sozialdemokraten allerdings feierten weiterhin die Demokratie auf dem Hauptfriedhof. 1898 lebten immerhin noch 17 ehemalige Abgeordnete des Paulskirchenparlamentes und fünf dieser hochbetagten Veteranen waren sogar nach Frankfurt gekommen, um mitzufeiern.
Ebenfalls 1898 war Julius Werner Pfarrer der ja noch als Kirche genutzten Paulskirche geworden. Der ließ dort nun ganz andere Töne der 48er anklingen - Antisemitismus und Frauen- und Fremdenfeindlichkeit waren mit dem Abgeordneten Mohl und dem "Turnvater" Jahn auch der Paulskirchenversammlung nicht fremd gewesen, stellten dort aber eine kleine hässliche Minderheit dar. Mit dem deutschlandweit agitierenden Werner wurden diese hässlichen Ansichten aber mehr und mehr salonfähig. Bis 1917 ließ man ihn machen. Bis fast zu Ende des Ersten Weltkrieges schlug eines der deutschen Herzen des politischen Antisemitismus in der Paulskirche.
Im März 1913 fand dann in der Paulskirche auch keine Veranstaltung zu 65 Jahren Nationalversammlung, sondern eine zu 100 Jahre Befreiungskriege und Einführung des Eisernen Kreuzes statt - der deutsche Nationalismus stand im alleinigen Mittelpunkt. Ebenso im Oktober 1913 als in der Paulskirche gleich mehrere große Feiern zum hundertsten Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig stattfanden. Hier huldigte Pfarrer Werner die preußische Krone als "die Krone der Freiheit".
Am 01.April 1915, veranstaltete Pfarrer Werner in der wieder über und über mit Fahnen geschmückten Paulskirche eine "patriotische Weihestunde" anläßlich des 100. Geburtstages Bismarcks. Dieser, so Werner, habe die Sehnsucht eines Jahrtausends deutscher Geschichte erfüllt. Über dem Altar prangte ein aus Blumen und Grün zusammengestelltes Eisernes Kreuz.
Und als Pfarrer Werner in einem Vortrag sogar den U-Bootkrieg in den Rahmen der christlichen Ethik stellte, war das 1917 dem Pariser Figaro einen Leitartikel wert.
Das änderte sich aber 1918/19 wieder. Der Weltkrieg war verloren, große deutschsprachige Gebiete waren von Deutschland abgetrennt worden und dem deutschsprachigen Rest des zerfallenen Österreichs war nicht erlaubt worden ein Teil Deutschlands zu werden - der Nationalstaat oder gar der Nationalismus standen also nicht mehr hoch im Kurs. Als 1923 dann 75 Jahr Paulskirche gefeiert wurden, stand wieder die Demokratie im alleinigen Mittelpunkt.
Der Präsident, der Sozialdemokrat Friedrich Ebert war aus Berlin angereist, ebenso hochrangige Regierungsvertreter aus Deutschland und aus Österreich, es gab viele Reden, einen Fackelzug und die Schulkinder Frankfurts standen Spalier. Zeitzeugen von 1848 gab es nun keine mehr, der letzte der Abgeordneten der Nationalversammlung, Johann Sepp, war 1909 gestorben.
Im Jubiläums- und Inflationsjahr 1923 hat es die Paulskirche dann auch auf einen Frankfurter Geldschein gebracht.
Im Juni 1926 fand in der vollbesetzten Paulskirche eine Großkundgebung des österreichisch -deutschen Volksbundes (ÖDV) statt, auf der der Anschluß Österreichs an Deutschland gefordert wurde, eine durch und durch nationalistische Veranstaltung. Präsident des ÖDV war der Präsident des deutschen Reichstages, Paul Löbe (SPD), während die österreichischen Funktionäre einen eher rechtsextremen Anstrich hatten.
1928 jährte sich dann zum 80. Mal die Verabschiedung der ersten Reichsverfassung mit ihren bürgerlichen Grundrechten. Diese war zwar nach dem Scheitern der Nationalversammlung 1849 nirgendwo umgesetzt worden, hatte aber 1918/19 die Grundlage zur Verfassung der Weimarer Republik gestellt und wurde auch entsprechend gefeiert. Im August 1928 lud das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold zum großen Verfassungstag nach Frankfurt, der 11.August war als Verfassungstag der Nationalfeiertag der Weimarer Republik und das Reichsbanner, die Straßenkampforganisation der drei republiktragenden Parteien SPD, Zentrum und DDP, lud nach Frankfurt und zehntausende von uniformierten Reichsbannerleuten marschierten in einem großen Umzug durch die Stadt, feierten auf dem Paulsplatz, am roten Obelisken auf dem Friedhof und hörten Reden in der Festhalle. Die Demokratie und nicht der Nationalstaat standen an diesem Festtag ganz klar im Mittelpunkt.
Aus der Mode ist die Demokratie aber dann schon 1933 gekommen, Feierlichkeiten zum 85. Jahrestag fanden in der Paulskirche nicht statt. Dafür kam Hitler dann am 31.März 1938, zum 90. Jahrestag der Eröffnung des Vorparlaments nach Frankfurt. Dieser hatte gerade Österreich annektiert und sprach im Zuge einer Wahlkampfveranstaltung (insofern es im Rahmen eines Einparteienstaates überhaupt einen Wahlkampf geben kann) im Kaisersaal des Römers und sagte, er habe verwirklicht, was unsere Vorväter vor neunzig Jahren erreichen wollten - Großdeutschland; und viele Deutsche sahen das damals genau so und jubelten ihm zu. Der demokratische Aspekt der Paulskirche wurde nun völlig ausgeblendet und der Nationalismus dominierte alles.
10 Jahre darauf 1948, zu den 100-Jahr-Feierlichkeiten lagen der deutsche Nationalstaat und auch die Paulskirche in Scherben. Deutschland war in vier Besatzungszonen geteilt, große deutsche Gebiete waren verloren und die drei Westzonen hatten sich gerade von der Ostzone separiert und das zu schaffende Westdeutschland brauchte eine neue Hauptstadt und das sollte - endlich und längst überfällig - Frankfurt werden. Unter enormen Kraft- und auch Marketingaufwand wurde die kriegszerstörte Paulskirche wiederaufgebaut und in einem riesigen Festakt am 18.Mai 1948 wiedereröffnet - die Welt schaute auf Deutschland! Hier stand wieder die Demokratie und nicht mehr der Nationalstaat im Mittelpunkt. Das trotzdem Bonn und nicht Frankfurt Bundeshauptstadt wurde, war ein Skandal und nur durch Korruption zu erklären, was der Spiegel vor einigen Jahren auch bewiesen hat. Aber immerhin war nun aus der Kirche Paulskirche das deutsche National- und Gedächtnisdenkmal geworden. Und in der Folge wurden und werden auch große Frieden, Demokratie und Emanzipation betreffende Preise in der Paulskirche verliehen. In eine zweite Paulskirche, die man parallel gleich mit aufgebaut hat, hatte der Deutsche Bundestag einziehen sollen, jetzt ist dort der Sendesaal des hessischen Rundfunks.
1963, anläßlich seiner Deutschlandreise, sprach der US-Präsident Kennedy in der Paulskirche zum 115. Jahrestages von der Paulskirche als "the cradle of German democracy", der Wiege der deutschen Demokratie. Mit dem Mauerbau, zwei Jahre zuvor, war der Nationalstaat aber auch in weite Ferne gerückt und Kennedy empfahl den zahlreich anwesenden deutschen Würdenträgern, Teil der "Atlantischen Familie" zu werden.
1973, zu 125-Jahren Paulskirchenparlament war eine große Ausstellung zu den Klassengegensätzen im Vormärz und in der Nationalversammlung in der Paulskirche geplant, der Rückblick auf die Paulskirche sollte entstaubt werden. Leider fehlte es am Geld für ein entsprechendes Rahmenprogramm und die DDR weigerte sich 40 bereits zugesagte Ausstellungsstücke von Ost- nach Westdeutschland zu schicken, so fielen diese, ganz im Zeichen der Demokratie stehenden Feiern etwas dünn aus. Aber immerhin ließ die Bundesrepublik, die sich nicht an den Kosten dieser Ausstellung hatte beteiligen wollen, ein silbernes Fünfmarkstück zum Thema prägen.
1989 rumorte es in der DDR und das autoritär geführte SED-Regime brach zusammen; aus zwei Deutschlands wurde daraufhin wieder ein einziger Nationalstaat. In der Paulskirche, die gerade (1988) renoviert wurde, wurden jetzt erstmals die Fahnen und Wappen der deutschen Bundesländer aufgehängt. In der Frankfurter Lokalpresse war zuvor lange diskutiert worden, wie solche Fahnen den auszusehen hätten und wie sie gewebt zu werden hätten. 1990 gewann Deutschland dann auch noch die Fußballweltmeisterschaft und über Nacht war ganz Deutschland voller Fahnen, ein Anblick, den man - zumindest in Westdeutschland - 45 Jahre lang nicht gesehen hatte. Das demokratische Westdeutschland war 45 Jahre lang ganz bewußt ohne alltägliche Fahnenschauen ausgekommen. Das Pendel war also wieder ein Stück in Richtung Nationalstaat ausgeschlagen. (Auf dem Bild mit Kennedy 1963 in der Paulskirche weiter oben, kann man allerdings auch Bundesländer-Fahnen sehen, ob die extra für den US-Präsidenten dort aufgehängt wurden oder auch in den 60ern dort schon Fahnen hingen, muss ich noch nachrecherchieren - Nachtrag: Tatsächlich waren die Fahnen zum Kennedybesuch 1963 extra zu diesem Anlass aufgehängt worden. Dauerhaft hängende Fahnen kamen dann aber schon mit der Renovierung 1966, mit der Begründung: die Akustik würde damit verbessert.).
1997, als sich nach der Wiedervereinigung der Nationalismus in Deutschland weiter und weiter hochschraubte, fand in der Paulskirche eine Ausstellung zur Beteiligung der Wehrmacht am Holocaust statt, eine anti-nationalistische Veranstaltung, die man bewusst in der Paulskirche, als der "Wiege der Demokratie" veranstaltete. Das demokratische Deutschland jubelte, das nationalistische grollte und Frankfurts Oberbürgermeisterin weigerte sich, die Ausstellung zu eröffnen. Erstmals nach dem Krieg zeigte sich, dass der Blick zurück auf die Paulskirche 1848 nicht mehr nur den demokratischen Aspekt ins Auge fasste, sondern ganz klar auch wieder den des Nationalstaates, dessen Ehre man in diesem Fall beschmutzt sah. In dieser Frage war Deutschland nun gespalten.
Im Jahr darauf, 1998, kam zu den 150-Jahr-Feiern dann Bundespräsident Herzog, im Rahmen eines Staatsaktes, in die Paulskirche. Hier fand er gewichtige Worte, die sowohl die Demokratie, als auch den nationalen Aspekt würdigten. Auch eine Briefmarke wurde dem 150. Jubiläum gewidmet.
Am 03.Oktober 2015, dem Nationalfeiertag, fanden die großen Festveranstaltungen zu 25 Jahre Wiedervereinigung in der Paulskirche statt. Diesmal war die Finanzierung kein Problem und alle Großen, Kanzlerin, Präsident und Ministerpräsident kamen, um den deutschen Nationalstaat zu feiern. Der Künstler Ottmar Hörl dürfte anläßlich dieser Feiern ein überdimensionales grünes DDR-Ampelmännchen, ein "Einheitsmännchen" vor der Paulskirche aufstellen.
In diesem Jahr 2023 sollen nun die großen Feierlichkeiten zu 175 Jahre Paulskirche hier in Frankfurt stattfinden. Eigentlich hatte die Paulskirche zu diesem Anlass saniert werden sollen und es hatte ein "Haus der Demokratie" - außerhalb der Paulskirche! - errichtet werden sollen, coronabedingt fand aber beides nicht statt und unser Haus der Demokratie bleibt - vorerst - weiter die Paulskirche. Wie es so aussieht, ist der Widerstreit zwischen Demokratie und Nationalstaat immer noch in vollem Schwange - wie dies übrigens auch schon 1848 bei den Debatten in der Nationalversammlung nicht anders war. Die Geschichte aber scheint sich alle 25 Jahre neu zu erfinden, jede Generation blickt anders auf die gleichen Sachverhalte.
Nachtrag. Die Feierlichkeiten zu 175 Jahren Nationalversammlung in der Paulskirche haben mittlerweile stattgefunden. Im Rahmen eines mehrtägigen Volksfestes standen mehrere tausend Menschen zum Teil lange an, um einmal einen Blick hinein werfen zu dürfen und am Jahrestag hielt Bundespräsident Steinmeier in der Paulskirche eine ultra-demokratische Rede, in der er sagte, die Nationalversammlung 1848 sei kein deutsch-nationales, sondern ein europäisch-internationales Ereignis gewesen. Er sprach sogar allen Demokratiefeinden das Recht ab, die schwarz-rot-goldene Fahne zu führen, denn die sei ein demokratisches, kein nationales Symbol - richtig so! Unsere Fahne ist demokratisch, unser Adler national.