Wie das Leben, so wird auch die Geschichtsforschung oft von Zufällen beeinflusst. 2004 lief in Frankfurt eine Ausstellung über den gründerzeitlichen Star-Fotografen Emil Bieber, der unter anderem Bismarck und die anderen Größen seiner Zeit fotografiert hatte. Da ich in meiner Sammlung eine Fotografie Biebers, die den greisen Bismarck zeigte besaß, besuchte ich diese Ausstellung und war sehr beeindruckt. Einige Zeit darauf fand ich auf dem Frankfurter Flohmarkt eine weitere Bieber-Fotografie. Ich erkannte den Fotografierten zwar nicht, weil es sich aber um einen Bieber handelte und mich die Ausstellung so beeindruckt hatte, kaufte ich das Bild.
Auf der Rückseite konnte ich lesen, dass es sich um Ludwig Barnay handelte, außerdem stand dort: "7.4.77 Leontes" (Leontes, eine Figur in Shakespeares Wintermärchen). Jetzt war es nicht mehr schwer herauszufinden, dass es sich um den Frankfurter Schauspielerstar handelte, der 1871 die Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger, die bis heute existierende Theatergewerkschaft, gründete. Seitdem habe bei meiner Zeitungsarchäologie-Lektüre alles über Barnay aufmerksam gelesen, während ich Theaterberichte oder Notizen über andere Schauspieler ansonsten eher überblättere. So ist Barnay für mich zu dem Schauspieler der frühen Kaiserzeit geworden - alleine wegen dieses Zufallsfundes auf dem Flohmarkt.
Ludwig Barnay war aber nicht nur Gewerkschaftsgründer, er war auch ein aufrechter Demokrat. Zu den 25-Jahr Feierlichkeiten zur Märzrevolution von 1848 durfte 1873 in Frankfurt erstmals eine offizielle Feier veranstaltet werden, in den Jahren zuvor hatte alles Gedenken an Revolution, Paulskirche und Robert Blum immer nur in der Illegalität stattgefunden und war von der Polizei verfolgt worden (auch auf die Feierlichkeiten am 18.März 1873 auf dem Berliner Friedhof war mit einem Polizeieinsatz, der Tote und Verletzte zur Folge hatte reagiert worden).
Barnay war gebeten worden auf der Festveranstaltung einen künstlerischen Vortrag zu halten, was ihm aber von der Leitung der städtischen Bühnen in Frankfurt nicht gestattet worden war. Barnay nahm aber dann abends - als Privatmann - am Festbankett teil und brachte in einer Stehgreifrede einen Toast auf Robert Blum und die Demokratie aus, sowie ein Pereat ("nieder mit ihm!" in der damaligen Studentensprache) auf alle abtrünnigen Demokraten - derer es viele gab.
Das wurde ihm übel genommen! Anfang Mai hatte er einen Gastauftritt auf der königlichen Bühne in Hannover und eigentlich war dieser Auftritt als das Debut eines Hannoverer Engagements gedacht, aber - obwohl er vom Publikum gefeiert wurde - erhielt er nicht die Unterschrift der Theaterleitung unter seinen Vertrag, der Generalintendant der preußischen Bühnen, Herr Botho von Hülsen, ein ehemaliger Berufsoffizier, der vom Kaiser in diese Position eingesetzt worden war, hatte es verboten.
Man versuchte noch Barnay eine Brücke zu bauen, er solle schriftlich bekannt geben, dass er nie die Demokratie habe hochleben lassen und er würde seinen Vertrag bekommen, aber so einer war Ludwig Barnay nicht, er verbat sich jede Zensur und ging nicht nach Hannover. Stattdessen wurde sein Frankfurter Vertrag um drei Jahre verlängert, er erhielt drei Monate Urlaub im Jahr, die er für auswärtige Tourneen verwenden durfte und auch seine Frau erhielt eine Anstellung am Frankfurter Theater - er ist also weich gefallen.
Die in Frankfurt erscheinende ultrapatriotische "Wacht am Rhein" sah Barays Fall so: " Wenn ein königlicher Schauspieler Robert Blum und die Republik leben läßt, also den König abschafft, so ist ... nichts natürlicher, als dass der König den Schauspieler abschafft."
Die Satirezeitschrift Kladderadatsch sah das entspannter:
1875 ging er ans Hamburger Theater und um diese Zeit wird auch das Bild oben aufgenommen worden sein - allerdings nicht von Emil Bieber, der war damals noch gar nicht auf der Welt, sondern von seiner Großtante Emilie Bieber!