Alexander Ruhe: 1920 -  Einmarsch der Franzosen - Besetztes Frankfurt. Dezember 2020

Ein Artikel aus der Reihe: Frankfurter Zeitungs-Archäologie

1918, nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, marschierten die allierten Truppen in das Deutschland links des Rheins ein und besetzten diese Gebiete für die nächsten Jahre. Obwohl Frankfurt rechts des Rheins liegt, war auch (heutiges) Frankfurter Stadtgebiet von der Besetzung betroffen - von 1918 bis 1930 waren Schwanheim, Höchst, Sossenheim, Griesheim, Rödelheim und Nied von französischen Truppen besetzt. Mit einem Zirkel hatten die Franzosen einen 30-Kilometer-Ring um Mainz gezogen und in diesem Radius lagen diese Frankfurter Vororte. Der Westen Frankfurts aber, der auch in diesem Radius gelegen hätte, wurde ausgespart.

Eine Zollgrenze gab es zwischen Griesheim und dem Gallus, etwa dort, wo heute die Autobahn über die Mainzer Landstraße hinweggeht. Diese Grenze war nicht nur eine Grenze für Menschen und Waren, sondern auch eine Zeitgrenze; Im Gallus galt die deutsche, die Mitteleuropäische Zeit (12h+1h), in Griesheim aber die französische, die Westeuropäische Zeit (12h+0h). Man könnte also sagen, Winterzeit in Frankfurt, Sommerzeit in Höchst.

Obwohl innerhalb der 50 Kilometer vom Rhein verlaufenden entmilitarisierten Zone gelegen, hatten in Darmstadt und Hanau 1919 militärische Freikorps agiert, im Sommer 1919 war ein solches Freikorps auch in Frankfurt einmarschiert und hatte die "Herrschaft" des Frankfurter Arbeiter- und Soldatenrates beendet. Erneut hatte es während des Kapp-Putsches am 13.März 1920 in Frankfurt Kämpfe gegeben und wieder war ein Freikorps in die Stadt gerückt. Als die Regierung in Berlin solche Freikorps auch auf das Ruhrgebiet losließ, um die Rote Ruhrarmee zu zerschlagen, war das den Franzosen zu viel an militärischen Aktivitäten in der entmilitarisierten Zone und im Morgengrauen des 06.April 1920 rückten sie mit ihren Truppen nach Frankfurt ein, so erklärt es zumindest ein Plakat, das die Franzosen auf Frankfurts Litfaßsäulen klebten und dass man sich auf die Füße getreten fühlte, vermittelte den Franzosen auch die folgende Karikatur, die kurz nach dem Einmarsch in einer französischen Zeitung erschien. In einer deutschen Karikatur, die ein paar Tage darauf erschien, trampelt hingegen der französische Präsident Clemenceau mit seinen Stiefeln auf Darmstadt und Frankfurt herum.

 . Über die Mainzer- und über die Eschenheimer Landstraße rückten die Poilus ein, auch mit der Bahn im Hauptbahnhof, den sie auch gleich besetzten. Die französische Rheinflottille besetzte alle Main-Brücken mit Maschinengewehrposten, Scharfschützen besetzten das Dach des Schauspielhauses, 20 französische Flugzeuge kreisten im Tiefflug über Frankfurt und im Dornbusch und auf der Ginnheimer Höhe wurden Kanonen aufgestellt, um Frankfurt unter Feuer nehmen zu können. Die Franzosen ließen ihre Kanonen nicht feuern, dafür feuerte aber ein deutscher Panzerwagen seine Kanone auf die nach Frankfurt einrückende französische Kavallerie ab, ansonsten wurde Frankfurt kampflos besetzt.

 Frankfurt war in den Köpfen vieler Franzosen auch 1920 noch als der Ort des schmachvollen Frankfurter Friedens von 1871 bekannt und der Einmarsch nun, nach dem Frieden von Versailles, wurde auch als eine Revanche angesehen.

Neben Frankfurt wurden auch Bad Homburg, Darmstadt, Hanau, Dieburg und Offenbach besetzt - siehe Karte. Auf dieser zeitgenössischen Karte sind alle diese Orte umkästelt - außer Offenbach. Aber warum auch? Niemand weiß, wo Offenbach ist.

Soldatenstandbild (evtl. an der Gutleutkaserne) mit Trikolore

Ganz martialisch bauten die Franzosen ihre Panzer vor der Gutleutkaserne (heute Finanzamt) und vor dem Hauptbahnhof auf und fuhren damit die Kaiserstraße auf und ab. Das Ganze ähnelte einem Pressetermin und die zahlreich in Frankfurt anwesenden französischen Journalisten und Fotografen berichteten und nach ein paar Stunden zogen die Panzer auch wieder vom Bahnhof ab. Die ebenfalls zahlreich hier anwesenden britischen, amerikanischen und italienischen Berichterstatter verhielten sich aber auffallend still.

Französische Panzer vor dem Hauptbahnhof und auf dem Appell-Hof der Gutleutkaserne

Viele Frankfurt dachten, es sei genau nur um dieses Presseevent gegangen und verhielten sich neugierig interessiert. Von nationalistischen Studenten wurde jetzt aber Stimmung gemacht, mit Autos fuhren sie durch die Stadt und hielten Reden, besonders dagegen, dass Frankfurt von vielen "farbigen" Kolonialtruppen, vor Allem Marokkanern, besetzt worden war. Das Gerücht war aufgekommen, die französische Armee würde Frankfurt am nächsten Tag wieder verlassen. Als dies aber nicht geschah, zog die Menschenmasse, die den Abmarsch der Franzosen aus der  - ebenfalls besetzten - Hauptwache beobachten wollten, einen immer engeren Ring um diese und fingen an die Soldaten zu beschimpfen und das Deutschlandlied zu singen. Vor der Hauptpost (heute Eingang My Zeil) war sogar ein Soldat entwaffnet worden.

In einer amerikanischen Zeitung konnte man lesen, der Auslöser für diesen Stimmungsumschwung sei gewesen, dass im französischen Hauptquartier, dem Hotel Imperial an der Alten Oper ein französischer Offizier einen deutschen Offizier mit einer Peitsche geschlagen habe.

Die Marokkaner in der Hauptwache fühlten sich bedroht und -  nachdem ein Stein auf sie geworfen worden war - feuerten sie ohne Warnung in die Menge. Sechs Tote und mehr als 30 Schwerverletzte blieben auf dem Schillerplatz zurück (heute das große Loch im Eingang der S-Bahn-Station) und drei der Verletzten erlagen noch später ihren Wunden. Einem anwesenden brtitischen Kameramann, der alles filmte, wurde von der wütenden Menge die Kamera zerschlagen, sonst gäbe es wahrscheinlich sogar eine Wochenschau über die Ereignisse. In einer Schweizer Zeitung konnte man lesen, der französische Offizier, der den Feuerbefehl gegeben hatte, habe sich danach an den Altar der Katharinenkirche geflüchtet.

Der Frankfurter Ernst von Salomon, Polizistensohn, Freikorpskämpfer und Rathenaumörder schrieb 1930, er und andere hätten versucht, die Menge national aufzuputschen. Einer von ihnen habe einem französischen Offizier an der Hauptwache dessen eigene Reitpeitsche durchs Gesicht gezogen, kurz darauf seinen die Schüsse gefallen.

Wieviele Tote es wirklich gegeben hatte blieb in der Folge ein Streitpunkt und ein Frankfurter Journalist, der geschrieben hatte, es wären sechs gewesen, wurde von den Franzosen mit einer Geldstrafe belegt, es seien nämlich nur vier gewesen und ein Fünfter sei von einem Auto überfahren worden.

Trotz des Maschinengewehrfeuers und der Toten ließen sich die Frankfurter aber nicht vertreiben und den ganzen Abend wogten Menschenmassen über Zeil und Kaiserstraße. Auch die Hauptwache war bald wieder von Menschen umringt. Als der Frankfurter Polizeipräsident zur Hauptwache kam, um die Menschen zum Abzug zu bewegen, wurde er mit Steinen beworfen. Am gleichen Abend wurde nochmals geschossen. Einer der französischen Panzerwagen, die in großer Zahl durch die Stadt patrouillierten, gab auf dem Opernplatz eine Salve ab und zwei Frauen wurden verletzt. Eine österreichische Zeitung wusste zu berichten, am 08.April sei ein Mädchen, das die Absperrung der Franzosen am Hauptbahnhof habe durchbrechen wollen, von diesen erschossen worden (sonst habe ich davon allerdings nirgendwo etwas gefunden) und eine Berliner Tageszeitung schrieb, es habe in dieser Nacht auch drei französische Tote gegeben.

  

Nach diesen Vorfällen wurden die Franzosen vorsichtiger und verschwanden mehr und mehr aus dem Stadtbild, auch die Hauptwache wurde am Tag nach den Schüssen geräumt. Zudem auch ihre Alliierten, wie auch die Presse der neutralen Länder sich gar nicht wohlwollend äußerten. Selbst das Hotel Imperial (gegenüber der Alten Oper, Bockenheimer Landstraße), dass der französische General Demetz zu seiner Kommandantur gemacht hatte, wurde nach zwei Wochen wieder geräumt. Vorher, am 14.April, hatte man auf dem Opernplatz aber noch eine große Militärparade veranstaltet, gemeinsam ´mit belgischen Soldaten. Belgien hatte sich als einziger Alliierter mit Frankreich solidarisch gezeigt.

Die Belgier machten sich hier auch gleich auf die Suche nach einem Frankfurter Anwalt, der während des Krieges Stadtkommandant in einem belgischen Städtchen gewesen war und mit dem sie wohl noch etwas zu besprechen hatten. Dieser Anwalt hatte es aber vorgezogen, Frankfurt noch vor dieser Aussprache zu verlassen und die Belgier machten aus seiner Wohnung ihr Offizierscasino. Die Franzosen hingegen waren in Frankfurt fündig geworden. Hauptmann Johann Imhoff hatte während des Krieges in großem Stile Plünderungen betrieben. Hier in Frankfurt fanden sie ihn und das halbe Inventar des Schlosses Maucreux. Imhoff wurde später in Frankreich zu einer langen Haftstrafe verurteilt.

Mit dem Einzug der Belgier ging der Abzug der französischen Kolonialtruppen einher, man ersetzte sie durch eine "weiße" Division aus Nancy. Aber noch nach dem Abzug der "Farbigen" titelt eine Pariser Zeitung mit: "Le Noirs dans la Maison de Goethe" und eine Schweizer Zeitung greift diesen Artikel auf mit:

Schwarze französische Soldaten seien ins Goethehaus einquartiert worden. Bislang hatte ich noch nichts von schwarzafrikanischen Einheiten bei der Besetzung Frankfurts gelesen und auch die nationalistische deutsche Presse schwieg in der Folge zu dieser Entehrung eines deutschen Kulturgutes ersten Ranges. Die sozialdemokratische Frankfurter Volksstimme dementierte diese Meldung umgehend, das Goethehaus sei von den Franzosen nicht besetzt worden. Es handelte sich also wohl um eine Zeitungsente, die aber von der NS-Geschichtsschreibung später wieder aufgenommen wurde.

Die Besatzungstruppen wurden in der Folge immer ziviler. Sie prosteten den Frankfurter in den Wirtschaften zu und besuchten die Messe. Das die Frühjahrsmesse überhaupt stattfinden konnte, war keineswegs selbstverständlich gewesen, die Franzosen hatten dafür extra ihre rigiden Pass- und Einreisebestimmungen für das besetzte Gebiet aufgehoben.

 

Außerdem begannen französische Soldaten sich mit Frankfurterinnen anzufreunden, was hier gar nicht gut ankam. Ganz besonders nicht, wenn es sich um farbige Franzosen handelte. Selbst die konnten mit ihrem Sold in Devisen und ihren Militärrationen die hungernden deutschen Männer bei den Damen ausstechen. Dazu einige wütende Karikaturen, die ich in Frankfurter Zeitungen gefunden habe.

 

 

Dass deutsche Frauen an französischen Konsumgütern interessiert waren, ist dann später sogar von der Werbeindustrie aufgegriffen worden. Bastos und Caid waren Zigarettenmarken.

Anzeige in einer in Deutschland erscheinenden französischen Militärzeitung

Die Franzosen hatten Frankfurt auch verkehrsmäßig vom Rest Deutschlands getrennt. Wer irgendwohin reisen wollte brauchte nun Papiere - und zwar französische Papiere mit Lichtbild - was einen Boom bei Frankfurts Fotografen auslöste und für die Antragsteller stundenlange Wartezeiten vor der französischen Kommandantur zur Folge hatte.

Die französische Regierung, so mutmaßte man auf deutscher Seite, soll versucht haben das Rheinland, das Ruhr- und das Rhein-Main-Gebiet als Separatisten-Republik aus Deutschland herauszulösen und damit eine Art neuen Rheinbund Napoleons wieder aufleben zu lassen. Als Briten und Amerikaner dies nicht zugelassen hatten, zogen Franzosen und Belgier am 17.Mai, am Vatertag, mit klingendem Spiel aus Frankfurt wieder ab, nachdem sie zuvor noch die 19 wegen "Beleidigung der französischen Armee" festgenommenen Frankfurter wieder freigelassen hatten und die Besetzung war vorüber.

Dass wegen der Besetzung Frankfurts der französische Franc im Kurs gegen Dollar, Pfund und sogar die Mark gefallen war, könnte den Abzug der französischen Armee auch beschleunigt haben.

    

Aber diese Zeit hat in der hiesigen Lokalbevölkerung ihre Erinnerungsspuren hinterlassen - auch in meiner Familie. Eine prägende Kindheitserinnerung meines 1908 geborenen Urgroßvaters war der Einmarsch marokkanischer Reiter 1918 in seinen Heimatort Wiesbaden-Biebrich, wovon er noch in hohem Alter oft und gerne erzählte.

Wenn meine 1916 in Rheinhessen geborene Großmutter mütterlicherseits etwas ganz und gar verwerflich fand - Demonstrationen gegen die Startbahn West zum Beispiel, rief sie empört aus: "Das ist ja wie bei den Separatisten!" - die sie selbst bestenfalls noch als Kleinkind erlebt haben kann.

 

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