Ein Artikel aus der Reihe:
Frankfurter Zeitungs-Archäologie
Das renommierte Bankhaus der Rothschilds
in Frankfurt hatte seit 1881 einen Hauptkassierer namens Rudolf Jäger.
Mit 27 Jahren war er 1875 Gehilfe des Hauptkassierers, seinem Vater, geworden.
Aber auch mit seinen 1892 43 Jahren war er immer noch ein lebenslustiger Mann,
mit einem großen Interesse an jungen Frauen. Damit stand er nicht ganz alleine,
aber Rudolf Jäger hatte, anders als viele andere, einen ausgeprägten
Versorgungstrieb. So hatte seine Familie, verheiratet war der Herr natürlich
auch, ein Kindermädchen, die Betty Kahle, die er so gut ausstaffiert hatte, das
diese sich eine Wohnung in Italien, in San Remo und eine weiter in
Homburg vor der Höhe (heute Bad Homburg) leisten konnte und zwischen diesen
beiden Wohnsitzen, gemeinsam mit ihrer Zofe und ihrem Stubenmädchen, die sie
sich mittlerweile zugelegt hatte, hin und her pendelte.
Dieses extravagante Verhalten war aber
nicht unbekannt geblieben und er wurde erpresst (zumindest interpretiere ich
das so, herausgefunden hat man es nie), vom Eierhändler Hensel aus
Bornheim, dem er im Laufe der Jahre insgesamt 500.000 Mark zuschoss (angeblich
als Einlage in sein marodes Eiergeschäft).
Ein einfacher Arbeiter verdiente damals 50 Mark/mtl., wenn er gut verdiente 80 Mk., ein einfacher Lehrer 150 Mk. und ein gut verdienender Angestellter 250 Mark im Monat. Mit den 7000 Mark die Rudolf Jäger im Jahr hatte, zählte er zu den Top-Verdienern Frankfurts, eine halbe Million aber, zahlte auch er nicht aus dem Ersparten, sondern er verbrauchte erst die stattlichen Vermögen seiner Mutter und seiner Schwester, die er verwaltete und griff danach immer tiefer in die Kasse der Rothschilds – ohne das diese das merkten - war er doch der Hauptkassierer. Mit Hilfe seines Cousins Friedrich Adolf Gerloff, Buchhalter in der Rothschild Bank, verschob er den Fehlbetrag von einem Konto auf das andere. Dabei war er so gründlich vorgegangen, dass bei einer Kassenrevision sich sogar ein Plus von 100.000 Mark ergeben hatte (was der Revisor einfach für einen Rechenfehler seinerseits hielt).
Aber dann wurde es ernst; für nach Ostern
1892 war eine Haupt-Kassenbuch-Revision angekündigt und nun müsste
alles herauskommen. Aber er hatte Glück, denn die Rothschild Bank war eine
jüdische Bank und 1892 fiel das Pessah-Fest auf Ostern, so dass Rudolf Jäger
über ein sehr langes Wochenende verfügte. Er nutzt die Zeit vor der Revision,
in dem er ein Kassenbuch verbrannte, aus anderen Seiten herausriss, weiter
1.200.000 Mark aus der Kasse entnahm und einen Abschiedsbrief schrieb (mit
Trauerrand, schwarz gesiegelt und mit einem Kreuz vor der Unterschrift). In
diesem schrieb er, die fehlenden 1,7 Millionen Mark habe er an der
russischen Getreidebörse verjuxt, es habe also keinen Sinn, diesem Geld
nachzuforschen, das möchte man bitte lassen. Auch ihm solle man nicht
nachforschen, denn er würde jetzt gehen und sich das Leben nehmen. Statt dessen
nahm er aber seine aktuelle Geliebte die Josephine (Josel) Klotz, rasierte
seinen Bart ab und floh mit auf den Namen eines Bekannten ausgestellten Pässen,
am Karfreitag nach Frankreich. Hier schifften sich die beiden nach Ceylon
(heute Sri Lanka) ein. Um das Geld schmuggeln zu können, hatte Josel es in ihre
Unterwäsche und in Paradekissen eingenäht.
Aber auch in Frankfurt war man nicht
untätig gewesen. Kommissar Meyer von der Kriminalpolizei nahm die
Verfolgung auf (Mayer war als „Strafe“ für sein Fehlverhalten beim Friedhofskrawall 1885, zur Kripo versetzt worden)
Meyer war dem Pass-Beschaffer Peter Müngersdorf auf die Spur gekommen (sein
Dienstmädchen hatte ihn verraten) und verfolgte nun die französischen
Zeitungen, in denen Passagierlisten der Dampfer abgedruckt waren. . Rudolf
und Josel hatten an Bord mittlerweile die Rollen eines Paares in den
Flitterwochen eingenommen und Rudolf verhielt sich, als wäre er der Baron
Rothschild persönlich, großzügig gab er wildfremden Mitreisenden Darlehen. Der
nächste Hafen auf dem Weg nach Ceylon war Suez. Mayer ließ dem deutschen Konsul
in Alexandria, Graf von Leyden, telegrafieren, er solle melden, ob ein Ehepaar
Müngersdorf in Suez das Schiff verlassen habe (Müngersdorf hatte, als Assistent
im Telegrafenamt diese Depesche in Händen, nahm prompt sechs Wochen unbezahlten
Urlaub und ließ sich von Hensel 200 Mark „Urlaubsgeld“ geben.) Rudolf und Josel
war es aber gelungen, das Schiff unerkannt zu verlassen, und der Konsul meldete
nach Frankfurt, dass die beiden noch an Bord seien. Der Dampfer Saghalien
fuhr nach Colombo weiter und das Flitterwochenpaar gab in Ägypten nun alles.
Sie fuhren auf dem Nil, besuchten die Pyramiden, Rudolf kaufte für sich und
Josel für mehr als 2000 Mark Goldschmuck.
Nachdem sie auch in Ceylon nicht ausgestiegen waren, hatte die britische Polizei gleich nach der Ankunft des Dampfers am 10.Mai in Singapore das ganze Schiff nach den beiden abgesucht, aber natürlich erfolglos, sie waren entkommen.
Aber Josel (* 03.Januar 1859), laut Steckbrief "schwindsüchtig aussehend" und blond, war als ein uneheliches Kind bei ihrer Mutter in Frankfurt aufgewachsen, hatte als Schneiderin gearbeitet und war bislang nicht auf Rosen gebettet gewesen. Sie konnte es sich deshalb nicht verkneifen gleich von Suez aus Postkarten nach Deutschland zu schicken. Eine der Karten, geschickt an eine Freundin in Wiesbaden, fiel aber in die Hände Kommissar Mayers und wieder ging ein Telegram an den Konsul, nun mit dem Auftrag, die beiden Flüchtlinge zu verhaften.. Gemeinsam mit ägyptischen Polizisten nahm der Konsul nun im Hotel Miramare in Ramlah (heute ein Stadtteil von Alexandria), wo Jäger, der täglich die Börse in Alexandria besuchte, sich unter dem Namen Randolfi eingemietet hatte, nun die Verhaftung vor. Rudolf zog noch einen Revolver, nutzte aber nichts, gefesselt wurde er nun ins Stadtgefängnis Alexandrias eingeliefert. Josel kam in das deutsche Diakonissen-Stift, das es in Alexandria gab, wo sie für einen Monat interniert wurde. Die beiden mussten warten, bis Polizeiassessor Johann Schmitz aus Frankfurt angereist war. Mit ihm und einem ägyptischen Polizisten als Begleitung traten Rudolf und Josel am 31.Mai 1892 die Heimfahrt, über Triest, nach Frankfurt an. (im Juli kam der Konsul dann selbst nach Frankfurt, um sich die ausgesetzte Belohnung abzuholen). Hier in Frankfurt wurden die beiden vor Gericht gestellt. Aber nicht nur Rudolf und Josel kamen vor Gericht, Rudolf hatte im Verwandten- und Kollegenkreis großzügig Geld gestreut und dieses hatten diese auch nicht wieder herausrücken wollen. Die Frankfurter Polizei musste eine richtige Puzzle-Arbeit unternehmen. Das Geld war in Büchern eingebunden, im Wald unter Bäumen vergraben, unter Klosettdeckeln verklebt. So wurden nicht nur zwei, sondern 15 Angeklagte vor Gericht gestellt – zumindest versuchte man das, aber dieser Fall, eine der großen und vor allem bekannten Banken war bestohlen worden. Die gesamte Presse, selbst die New York Times, hatte ihre Leser regelmäßig über den Gang der Ermittlungen auf dem Laufenden gehalten und deshalb waren hunderte Frankfurter auf den Beinen, um einmal einen Blick auf die „Defraudenten“ zu werfen. Der beste Platz dafür war natürlich direkt vor dem Gerichtsgebäude auf dem Klapperfeld. Den den Transport begleitenden Polizisten war es angst und bange geworden und erst als das herbeigerufene Militär mit aufgepflanztem Bajonett die Straße geräumt hatte, konnte der Prozess beginnen. Rudolf Jäger wurde zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, als Straferschwerend wurde ihm angerechnet, dass er sich mit einer Dirne eingelassen hatte. Sie, die ja eigentlich gar nichts gestohlen hatte, sondern nur mit ihm in den Urlaub gefahren war, erhielt drei Jahre, der Eierhändler Hensel sechs. Jägers Frau Helene, für die er 20.000 Mark im Goldfisch-Aquarium versteckt hatte, hatte kurz vor ihrer Verhaftung versucht zu ihrem Bruder nach England zu fliehen, sie erhielt sechs Monate Haft (die drei Töchter wurden bei einem Pfarrer in Pflege gegeben.) Alle Gefangenen wurden in Preungesheim inhaftiert, nur das Dienstmädchen der Jägers, Käthchen Messer, wurde im Gefängnis im Kloster Eberbach eingesperrt (hatte auch 20.000 bekommen). Betty Kahles Wohnung in Brüssel, wohin sie nach Jägers Flucht geflohen war, wurde durchsucht. Dort hing ein blumenumkränztes Foto Jägers an der Wand mit der Unterschrift: Willkommen bei mir. Sie wurde merkwürdigerweise nicht vor Gericht gestellt
Dieser Fall war eines der großen Ereignisse
des Jahres 1892, ja so bedeutend, dass er es zur Fastnacht 1893 auf
gleich zwei Motivwagen brachte, einen auf dem Bornheimer und einem auf
dem Sachsenhäuser Zug..
Rudolf Jäger wurde eine Walfischbarten-Biegemaschine
in die Zelle gestellt, mit der er Damenkorsetts herstellt. Hensel, als
gelernter Tapezierer, wurde mit Tapezieren beschäftigt, Gerloff wurde
Buchhalter im Gerichtsgefängnis auf dem Klapperfeld. Hensel musste noch eine
Reihe von Prozessen über sich ergehen lassen, die Polizei hatte zwar bei Rudolf
und Josel 590.000 Mark gefunden, auch das meiste Geld, das er an die
Mitangeklagten verteilt hatte, wurde den Rotschilds zurückerstattet, der Posten
von über 500.000 Mark, den er erhalten hatte, blieb aber verschwunden. Hensel
schien auch nicht ganz verarmt gewesen zu sein, ins Gefängnis ließ er sich aus
einem Gasthaus das Essen bringen und damit seine beiden Zellengenossen, die mit
dem Gefängnisessen vorlieb nehmen mussten, nicht rebellisch wurden, ließ er für
die durch einen Aufseher täglich Wurst und Brot bringen. Allerdings nicht
lange, denn Hensel war an Unterleibskrebs erkrankt und musste ins Krankenhaus,
wo seine Verhöre am Krankenbett fortgeführt wurden. Im März 1893 wurde ihm dort
ein Bein und ein Teil des Hüftknochens abgenommen, trotzdem gingen
die Prozesse weiter. Am 12.Juli 1893 ist er im städtischen Krankenhaus
gestorben. Auch Rudolf Jäger musste seine volle Haftzeit nicht absitzen,; in
Preungesheim hatte er sich die Kehlkopf-Tuberkulose zugezogen, an der er
am 27.Dezember 1894 starb.