Alexander Ruhe: 1923 - Eine S-Bahnfahrt von Frankfurt nach Wiesbaden - Deutschland im "Ruhrkampf". Dezember 2023

Ein Artikel aus der Reihe: Frankfurter Zeitungs-Archäologie

"Afrikanischer Kleinbahnverkehr auf einer Hochstraße des Weltverkehrs!" herrsche auf der Eisenbahnstrecke zwischen Frankfurt und Wiesbaden, beklagte sich im April 1923 ein Reisender, der versucht hatte, von Berlin nach Wiesbaden zu reisen. Heute braucht die rasante elektrisch betriebene S-Bahn von Frankfurt bis Wiesbaden eine dreiviertel Stunde, das gab es 1923 noch nicht, aber auch die dampfbetriebene Taunuseisenbahn, eine der ältesten Eisenbahnstrecken Deutschlands, schaffte das normalerweise in 60 Minuten, im April 1923 waren aber keine normalen Zeiten.

Weil Deutschland sich mit dem Bezahlen der im Versailler Friedensvertrag verlangten Reparationen schwer tat, hatten die Franzosen im Frühjahr 1923 das Ruhrgebiet besetzt und trieben ihre Reparationen nun in Form von Kohle und Stahl ein.

Die deutsche Regierung versuchte das zu unterbinden, indem sie die Bergarbeiter dazu aufrief, keine Kohle mehr zu fördern und die deutschen Eisenbahner, keine Züge mit Kohle und Stahl mehr zu befördern. Sowohl Bergmänner als auch Eisenbahner wurden vom Staat finanziell entschädigt - was die Inflation ganz ordentlich antrieb. (Die Zeitung in der ich diese Geschichte gelesen habe, kostete damals 150,-Mark, die Ausgabe eine Woche später 200, und noch eine Woche später 250,-Mark)

Die Franzosen waren sauer und beschlagtnahmten die deutsche Eisenbahn innerhalb ihrer Besatzungszone und im Ruhrgebiet. Die deutsche Regierung verbot nun allen Eisenbahnern bei schweren Strafen, mit den Franzosen zu kollaborieren. Und so lagen die Strecken brach, auch im noch neuen Eisenbahnausbesserungswerk in Nied ruhte die Arbeit. Außerdem behielt die Reichsbahn alle Lokomotiven und Waggons, die die Besatzungszonengrenze überquerten ein, so dass die Franzosen keine Bahnen mehr über die Grenze schickten.

Das musste dann auch dieser Berliner feststellen, der mit dem Frühzug aus Berlin in Frankfurt angekommen war und nun nach Wiesbaden weiter wollte. Bei den großen Eisenbahnerstreiks 1922 hatten Taxis als Streikbrecher fungiert und so dachte der Berliner: Dann nehme ich halt ein Taxi.

So schlau waren die Franzosen aber auch, da die Deutschen keine Eisenbahnen mehr in ihre Besatzungszone hineinließen, machten sie es jetzt umgekehrt mit Autos genauso - kein Taxi und auch kein Lastwagen durfte die Grenze überqueren. Der Berliner nahm jetzt also die elektrische Straßenbahn bis zur Grenze, überquerte diese und lief, in strömendem Regen, mit seinem Gepäck zum Griesheimer Bahnhof. Dort traf er außer sich nur Uniformierte und der nächste Zug nach Wiesbaden würde erst in fünf Stunden fahren. Außerdem wurde er gewarnt, dass es überhaupt nicht  patriotisch sei, "die französische Bahn" zu benutzen und gefährlich sei das auch. Die französchische Besatzungsbehörde hatte etwa 10.000 Franzosen für den Bahnbetrieb über die Grenze gebracht, die mit dieser Aufgabe auch noch total überfordet waren, hatten die fast 100.000 deutschen Eisenbahner, bevor sie nach Hause gingen zum Teil lebenswichtige Beschriftungen abgeschaubt, auch die Schrankenhäuschen konnten die Franzosen nicht besetzen, so dass die Schranken einfach offen blieben und Sabotageakte gegen die französische "Eisenbahnregie" waren im Frühjahr 1923 an der Tagesordnung gewesen. So nahm der Berliner, dem man gesagt hatte, von Höchst aus könnte er einen Lastwagen nach Wiesbaden nehmen, seinen Koffer und stapfte durch den Regen nach Höchst, gemeinsam mit vielen Anderen. Erst hinter Höchst hielt eine Kohlenlaster für ihn, der Berliner durfte aber nicht in die Fahrerkabine steigen, hätten die Franzosen einen Beifahrer bei ihm gesehen, hätte sie den ganzen Wagen beschlagnahmen können, so musste er sich hinten an die Pritsche hängen und so mitfahren. Das ging aber nur für 10 Minuten gut, bis ein französischer Soldat den Laster stoppte und zu Fuß ging es weiter bis Hattersheim. Mittlerweile war der Patriotismus des Berliners arg geschwunden und er ging in Hatterheim auf den Bahnhof und wartete auf den französischen Zug. Restpatriotisch hatte er allerdings eine Fahrkarte 4.Klasse gekauft, damit die Franzosen bloß nicht zuviel an ihm verdienten.

Der Zug hatte um 13 Uhr in Hattersheim eintreffen sollen und als der Zug um halb Zwei immer noch nicht da war, fragte er den einen Franzosen, der den ganzen Bahnhof betrieb, wo der Zug denn bliebe und musste hören, der Zug käme um 13 Uhr französischer, nicht deutscher Zeit, es dauere also noch eine halbe Stunde. Tatsächlich dauerte es noch eineinhalb Stunden, bis der Zug endlich kam, denn in Griesheim war der Lok der Dampf ausgegangen. Im Frankfurter Hauptbahnhof wäre da kochendes Wasser nachgefüllt worden, in Griesheim aber nur kaltes, das der Lokführer über eine Stunde erst mal zum Kochen bringen musste, bis er wieder genügend Dampf hatte. Als der Zug dann endlich kam, war die patriotisch korrekte 4.Klasse total überfüllt und der Berliner musste sich mit seinem Koffer noch dazwischen quetschen. Vor Wiesbaden musste der Zug schon wieder halten, denn Weichensteller hatten die Franzosen auch keine und der Lokführer musste selbst aussteigen und die Weiche umstellen.

Ganz furchtbar beklagte sich dieser Berliner vor 100 Jahren über die mangelnde Pünktlichkeit der französischen Eisenbahn. Zumindest da gibt es dann keinen wesentlichen Unterschied zwischen einer S-Bahnfahrt 1923 oder 2023.

 

 

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