Die
hier folgenden Briefe habe ich Ende der 1990er Jahre aus einem Sperrmüllhaufen
im Frankfurter Gallusviertel gezogen, auf dem neben Töpfen und Tassen auch viele
Fotos und Briefe und außerdem der gesamte Hausrat einer älteren Dame lag –
wahrscheinlich war sie verstorben.
Besonders interessant fand ich die Briefe, die ihr ein Gert über die
französisch-amerikanische Zonengrenze geschrieben hatte. Eine anfänglich noch
frische Liebe wird, da Gert nicht nach Frankfurt ziehen darf, immer kühler, bis
er dann ganz aufhört zu schreiben (oder Hilde die Briefe nicht mehr aufgehoben
hat). Viel interessanter finde ich die vielen Details über das Leben direkt nach
dem Krieg, an dem der Abiturient Gert noch als Soldat teilgenommen hatte. Die
Briefe berichten über Hunger, Trümmerräumen, die Verkehrszustände,
Grenzkontrollen der Amerikaner, das Studentenleben in Freiburg und vieles mehr.
Nachnamen und Adressen – einige Briefumschläge sind auch noch erhalten – habe
ich selbstverständlich gestrichen, ansonsten habe ich die Briefe wortgetreu
transkribiert, samt alter Rechtschreibung und Rechtschreibfehlern – nur
überraschend wenigen, bei einer, für einen 18-19 jährigen, ausnehmend schönen
Schrift.
In
Form einer öffentlichen Lesung habe ich bereits 2005 Teile aus diesen Briefen
vorgetragen, in ganzer Länge erscheinen sie erst jetzt, wo ich mit großer
Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass sowohl Hilde als auch Gert
mittlerweile verstorben sind.
Die Briefe
Worms, 29.11.45
Liebe Hilde!
Leider traf ich Dich bei meinem gestrigen Blitzbesuch
nicht an. Ich habe jedoch Frau Winter eröffnet, warum ich gekommen war, und so
wirst Du ja das wichtigste schon wissen. Am 8.Dezember steigt ein kleiner
Klassenkommers der hochwohllöblichen Oberprima des Gymnasiums zu Worms, den ich
mit etwas Frankfurter und Dittelsheimer Geist ausstatten möchte. Du stellst nun
die richtige Mischung dar, die unserem Kommers noch fehlt, und ich lade Dich
deshalb recht herzlich dazu ein. Vor allem möchte aber ich mir mal wieder
Dittelsheimer Luft um die Nase wehen lassen; weil dies aber aus Zeitmangel mir
nicht möglich ist, musst Du schon so freundlich sein, die Luft, die ich so sehr
hier in Worms entbehre, herbeizuschaffen. Ich glaube, dass ich mich deutlich
genug ausgedrückt habe und Du nur noch den einen Wunsch hast, mir mein Heimweh
nach Dittelsheim zu vertreiben.
Ich hatte mir gedacht, dass Du mit dem Spätzug
hierherkommst, ich Dich am Bahnhof abhole und wir beide uns dann zur
Festlichkeit begeben. Am Sonntagmorgen bringe ich Dich wieder zur Bahn oder
fahre sogar, wenn es die Zeit erlaubt, zu einem Besuch mit nach Dittelsheim. Du
brauchst nur eine gute Stimmung mitzubringen; für alles andere ist gesorgt. Aber
auch mit schlechter Stimmung bist Du willkommen. Die gute kommt dann von selbst.
– So ist also mein Plan. Ob er ausgeführt wird, liegt nun bei Dir. Ich bitte
Dich nochmals recht herzlich: Komm! Nun möchte ich Dich zum Schluß noch bitten,
mir über Deinen Entschluß Bescheid zu geben, und zwar möglichst bald. Eigentlich
gibt es ja nur einen Entschluß, aber ich möchte es natürlich genau wissen. Die
Vorfreude soll ja fast noch schöner sein als die richtige. Ich wohne hier
B...straße 8 II. Du wirst schon einen Weg finden, mir die Nachricht
zukommen zu lassen.
Grüße mir bitte die Dittelsheimer recht schön.
Auf baldiges Wiedersehen in Worms!
Gert.
Worms, 28.02.46
Liebe Hilde!
Du hast mir eine ganz große Freude bereitet, dass Du mir
geschrieben hast. Nun fühle ich mich etwas schuldbewusst, dass ich nicht zuerst
schrieb. Denn nach Deiner Karte aus Rastatt, für die ich herzlich danke, war ich
ja wieder an der Reihe. Aber ich hatte mir schon von Hanna Deine Adresse besorgt
und hatte die feste Absicht, noch in dieser Woche zu schreiben. Nun bist Du mir
also zuvorgekommen.
Du hast mir wieder ein bisschen Auftrieb gegeben. Denn
wenn ich mir vorstelle, wie Du an Eurer neuen Wohnung wirkst, dann muß ich mich
entschließen, gegen all die Schwierigkeiten mit frischem Mut anzugehen, vor
denen ich nun fast kapituliert hätte. Du weißt, ich stehe eben drei Wochen vor
dem Abitur. Man hatte mich vor drei Wochen wieder einmal, wie schon an
Weihnachten suspendiert und meine ganze Laufbahn schien über den Haufen
geworfen. Seit heute darf ich nun wieder die Schule besuchen. Zugleich mit
deinem Brief kam die Erlaubnis. Es war für mich ein Zeichen, auf keinen Fall
nachzugeben und die Waffen zu strecken. Vielleicht können wir uns gegenseitig
ein wenig stützen. Wir sind doch in gewisser Hinsicht ein wenig miteinander
verwandt, nicht wahr? Du weißt, was ich meine. Und wenn ich also daran denken
kann, dass Du drüben mit ähnlichen Hindernissen kämpfst und Dich nicht
unterkriegen lässt, dann kann ich sicher ebenso stark sein wie Du. Und umgekehrt
bestärkt es Dich, dass ich Dir nacheifere. Wollen wir also?
Es hätte nicht viel gefehlt, dass ich heute nach
Frankfurt gefahren wäre. Ich muß mich mal auf der Universität umsehen. Nun kam
mir die Schule dazwischen. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Ich werde
Euch natürlich heimsuchen, wenn ich in Frankfurt bin. Frankfurt zieht mich
übrigens mehr als je an (Merkst Du was?) Ich war vor anderthalb Wochen in
Dittelsheim. Es war furchtbar langweilig. Ich bin gleich wieder abgerückt; denn
es fehlte was. Ich bin mir jetzt auch klar darüber, dass in Dittelsheim mich
weniger die Dittelsheimer Eigenart als vielmehr der Frankfurter Geist angezogen
hat. Die Leute an sich sind ja dort so schwerfällig. Dieses belebende Element
fehlte neulich. Er ist nach Frankfurt abgereist. Aber ich werde es dort
aufzufinden wissen !
Sonst ist von hier wenig zu berichten. Ich lerne halt
fest. Die Tanzstunde geht ihrem Ende zu. Der Schnee ist jetzt gekommen.
Natürlich kann ihn nun kein Mensch mehr brauchen.
Das sind aber lauter belanglose Dinge. Wichtiger ist
schon, dass nächste Woche Fastnacht ist, bedauerlich, dass man hier in Worms
alleine herumsitzt, am entscheidensten aber ist der Entschluß, dass nach dem
Abitur etwas ganz tolles steigen muß. Machst Du mit ? Na, wir werden noch
darüber weiter sprechen.
Laß bald etwas von Dir hören und versäume es ja nicht,
wenn Du nach Dittelsheim fährst, mich in Worms zu besuchen.
Richte bitte Deinem Vater herzliche Grüße aus. Ich
wünsche ihm gute Besserung !
Dir aber wünsche ich viel Glück beim Neubau und als Gute
!
Dein Gert.
Worms, 22.03.46
Meine liebe Hilde!
Ich habe mein Versprechen nun doch nicht gehalten.
Eigentlich wollte ich Dir ja schon gestern schreiben. Aber es ging beim besten
Willen nicht. Doch heute ist es darum nicht weniger herzlich.
Hoffentlich bist Du wieder glücklich drüben gelandet. Ich
habe am Dienstag fest den Daumen gedrückt. Deinen Gegendruck habe ich übrigens
auch gespürt. Die Sache verlief verhältnismäßig glatt. Nur am Donnerstag mußt Du
etwas nachlässig gewesen sein. Denn ich habe das seltsame Gefühl, als ob die
Arbeit in Deutsch daneben geraten wäre. Doch habe keine Angst! Ich gebe Dir
nicht die Schuld. Die Themen lagen mir nicht. Ich konnte mich nicht austobe und
geriet deshalb vielleicht in eine falsche Richtung. Doch, wie gesagt, es ist nur
so ein Gefühl. Das Deutsch schmeißt den Karren noch lange nicht um. Mit dem
anderen Kram bin ich ganz zufrieden. Es bleibt nun die mündliche Prüfung am
06.April abzuwarten. Das wird noch ein anstrengender Höhepunkt., während die
vergangenen vier Tage recht gemütlich waren. Vor allem war die Schonung meiner
werten Persönlichkeit durch meine Eltern in dieser Zeit ganz enorm. Ich kam mir
vor wie irgendein Erbprinz, dem alle Leute die Wünsche an der Nase ablesen.
Mittlerweile hat sich auch das wieder geändert.
Ich habe vor am nächsten Dienstag Frankfurt unsicher zu
machen. Vielleicht bin ich eher dort, als dieser Brief hier. Ich will Dich
natürlich besuchen. Wann das ist im Verlauf des Tages, hängt von der Erledigung
meiner Geschäfte an der Universität ab. Versämen werde ich den Besuch aber auf
keinen Fall.
Dann können wir uns über einiges unterhalten, was am
Sonntag nicht zur Sprache kam. Habt Ihr eigentlich Wilmas Geburtstag nett
gefeiert? Heute traf ich Manu in Worms. Er erging sich in dunklen Andeutungen
über Verwirrungen, die entstanden seien. Genaueres konnte er mir wegen der Kürze
der Zeit nicht sagen. Vielleicht wollte er auch nicht. Sicher ist es das übliche
Spiel zwischen Karl und Hella. Da habe ich keine Sorgen. Das wird wieder. Das
ist bis jetzt immer wieder geworden. Warum sollte es auch nicht?
Unsere Tanzstunde ist nun bald zu Ende. Doch wir werden
uns das Vergnügen erhalten. Es ist doch wirklich das einzige in unserer
trübseligen Zeit. Gestern hast Du hier gefehlt. Wir haben eine kleine
Verzweiflungsfeier über unser „Schriftliches“ steigen lassen. Die Stimmung
entsprach durchaus nicht der Verzweiflung- daraufhin schluckten wir heute früh
im Griechischen beinahe unseren Lehrer hinunter. So – müde waren wir.
Für heute schließe ich mit vielen lieben Grüßen.
Auf ein baldiges Wiedersehen
Dein Gert.
Worms, 26.03.46 21h
Meine liebe Hilde!
Die Reise verlief ohne besondere Ereignisse. Alles
klappte wie am Schnürchen. Den Paß brauchte ich „fast garnicht“. Auf mein
treuherziges Gesicht hin ließ man mich ungehindert ziehen. Ich machte lange
Beine und erreichte so auch noch meinen Zug in Mainz. Um ½ 8 Uhr war ich zu
Hause.
Hier war Hochstimmung. Ingrid spielte mit ihren
Freundinnen Theater. Es war zum Schießen. Das Einmaleins kann sie zwar nicht
oder nur lückenhaft, aber sonst…! Ich bekam noch einen Stehplatz. Während der
Vorstellung las ich vor allem einmal in Ruhe Deinen Brief. Es fiel garnicht auf,
weil ich ganz hinten stand. Ich habe mich mehr als gefreut über Deine Auffassung
von unserem Samstagabend. Auch ich ging damals mit einem Gefühl der
Zufriedenheit weg. Aber später kamen mir Zweifel, ob ich mich denn wirklich
richtig benommen hätte. Es ist die Tragik des Menschen, daß er dann, wenn er
etwas Gutes vollbracht hat, sich dessen meistens nicht bewußt ist, und
umgekehrt, daß er nichtige Dinge zu seinen größten Taten zählt. So ging es auch
mir. Wenn zwei Menschen sich hohe Dinge sagen, dann kommt es leicht vor, daß ein
einziges, etwas leichtfertig ausgesprochenes Wort die Stimmung zerreißt und in
ihr Gegenteil umkehrt. Darum werde ich in solchen Fällen, wenn ich meine
Gedanken angedeutet habe, schweigsam. Das Gespräch schläft ein, nur ab und zu
klingt ein Wort auf. Dazwischen liegen aber die Pausen voll tiefer Gedanken.
Warum sollte man denn auch sie aussprechen? Wenn sie der Partner nicht erfüllt,
sind sie sowieso umsonst. Stimmt er mit mir überein, bedarf es der Worte nicht,
die doch nicht die Fülle des Gedanken wiedergeben können.
So kamen mir also Zweifel, ob Du mich verstanden hattest.
Dein Brief hat mich beruhigt. Er sagt mir, daß meine Zufriedenheit keine
Selbsttäuschung war. Deine Übereinstimmung mit mir läßt nun alles in einem
besonderen Licht erscheinen. Das Geheimnis eines schönen Abends mit Dir gibt mir
jetzt die innere Freude, die mir früher ein geglückter Lausbubenstreich gab. Was
wiegt dann aber gegen solch eine reine harmlose Freude die Auswürfe, die mehr
oder weniger schmutzige Zungen uns anzuhängen bereit wären. Ich habe mich mit
dieser Sorte von Menschen nie identisch gefühlt. Drum sollen sie uns auch nicht
im geringsten stören. Wir wissen, was wir uns und der Welt schuldig sind. Man
hat us ja früh genug darauf hingestoßen. Wir genügen uns selbst!
Je mehr ich über meinen heutigen Besuch nachdenke, desto
netter erscheint er mir. Es war für mich äußerst interessant, Deine Eltern
kennenzulernen. Übrigens sind unsere beiden Vatis das gleiche Kaliber. In jeder
Beziehung; sogar du gerade in ihrem Verhältnis zu ihren jüngsten Zöchlings. Wenn
man sie beide zusammenbringen würde, ich glaube, man könnte ein Buch darüber
schreiben.
Als ziemlich
dunkle Geschichte geht mir immer noch im Kopf herum, wie ich es gutmache, daß
ich Euch des Essens beraubt habe. Ich werde eine Lösung finden, ganz bestimmt!
Hoffentlich kann ich schlafen.
Bevor ich aber einzuschlafen versuche, werde ich in
Gedanken das tun, was ich im Bahnhof „aus Anstand“ unterließ, was ich aber sehr
bald „in natura“ nachholen werde:
Ich werde fest an Dich denken und Dir einen herzhaften
Kuß geben.
Dein Gert
Worms, 10.04.46
Meine liebe Hilde!
Für Deinen Brief mit dem netten kleinen Frühlingsgruß
meinen herzlichen Dank. Er kam gerade an dem Tag vor dem mündlichen Abitur bei
mir an. Ich steckte ihn natürlich ein und hatte ihn deshalb in der Prüfung
dabei. Sicher ist es daher so leicht gegangen. Ich habe noch einmal mächtig
Eindruck geschunden. Ich war das ja meiner ehre schuldig. Ein ganz tolles
Zeugnis war das Ergebnis. Ich habe selbst gestaunt. Aber besser staunen, als
enttäuscht sein. Nun kurz die Noten: alles ist „gut“, außer Biologie, Chemie und
Englisch. Da hat man mir „sehr gut“ hingeschrieben. Ob das eine Aufforderung
ist, in der Landwirtschaft zu bleiben? Fast scheint es mir so. Vorläufig hoffe
ich noch, daß der Antrag in Frankfurt durchgeht. Aber ich hörte, daß die Anträge
sich häufen sollen. Es wird schon schiefgehen.
Warst Du über Sonntag in Dittelsheim? Ich wollte
eigentlich am Sonntagabend hinfahren. Aber leider war ich krank und Onkel Doktor
verordnete mir Bettruhe. Die Splitter, die ich vor einem Jahr abkriegte, haben
anscheinend eine Rundreise unternommen und wollen jetzt wieder raus. Ich habe
grundsätzlich nichts dagegen. Nur dürfte es weniger schmerzhaft vonstattengehen.
Inzwischen bessert sich aber die Lage zusehends. Zum Kommers am Freitag muß
alles klar sein.
Heute nur ganz kurz. Ich habe unheimlich zu tun. Als
Primus bin ich natürlich für die Kommerszeitung verantwortlich. Später mehr.
Recht herzliche Grüße,
Dein Gerd
Worms, 20.4.1946
Meine liebe Hilde!
Heute morgen kam Dein lieber Brief an, für den ich recht
herzlich danke. Mir ist mit hörbarem Poltern ein kleiner Felsen vom Herzen
gefallen. Ich hatte doch ein schlechtes Gewissen. Na, jetzt bin ich doch
beruhigt. Und ich habe wieder eine Lehre gezogen. Man weiß nie, wozu es gut ist,
wenn man morgens verschläft. – Ich selbst hatte in der Lateinstunde das Gefühl,
als ob mich meine Schülerin ganz besonders interessiert ansähe, aber nicht nur
wegen der Lehren der Weisheit, die sie von mir erhielt. Ich habe mich aber nicht
aus der Ruhe bringen lassen. Von Knierim hörte ich, daß er in der ersten Stunde
noch etwas matt gewesen sei, dafür aber später umso fester gewirkt habe.
Übrigens habe er auch wieder das alte Problem „über die Relativität der Begriffe
vorn und hinten“ aufgeworfen. Beim Kommers sei er aber leichter zum Endresultat
gekommen. Wahrscheinlich war die beschwingte Stimmung daran schuld. – Ich habe
am Samstagnachmittag etwas geschlafen und war am Abend kreuzfidel. Was ein
Mensch doch nicht alles ertragen kann?
Trotzdem habe ich mich etwas herausgehalten aus dem
ganzen Trubel, der in der vergangenen Woche stattfand. Doch vor der nächsten
Woche graut mir wieder ein wenig. Die Einladungen häufen sich. Es wird meine
ganzen Kräfte in Anspruch nehmen. Vor allem bin ich auf eine „Kellerdutt“ bei
unserem Theologen in Guntersblum gespannt, zu der auch Knierim kommen wird. „Es
ist ganz gut, daß die Erfindung der Kellerdecke gemacht worden ist; denn…“
Du hast sicher Deine Backsteine alle zusammengehamstert.
Hoffentlich läßt man Dir jetzt ein bißchen Ruhe. Wenigstens über die Feiertage.
Du hast sie verdient. Vielleicht kannst Du mit wieder etwas Däumchen halten,
damit die Sache mit der Universität klappt. Leider läuft nun heute mein Paß nach
Ffm. Ab Die Aussicht, wieder einen zu kriegen, ist sehr gering. Trotzdem hoffe
ich, Dich bald wieder einmal zu sehen. Vielleicht in Dittelsheim?
Für heute viele liebe Grüße und „Frohe
Ostern“
Dein Gert
Worms, Ostersonntag 1946
[21.April]
Meine liebe Hilde!
Heute Morgen kam Dein herzlicher Ostergruß hier an und
ich bin erfreut und beschämt zugleich. Erfreut bin ich über Deine liebe Art, an
mich und meine Angehörigen zu denken, beschämt darüber, daß es mir wohl nie
gelingen wird, in einem solch kurzen Brief soviel Herzlichkeit hineinzulegen,
und daß ich Dir nicht einmal annähernd für Deinen Brief danken kann. Es gehört
eben etwas ganz Weibliches dazu, so zu schreiben. Wir männlichen Wesen sind
selbst in unserer weichsten Stimmung noch zu hart im Vergleich zu dem, was eine
Frau fühlen kann. Ich könnte dies nun als Entschuldigung für mich vorbringen,
Aber ich entschuldige mich nicht gern, solange es vielleicht noch eine
Möglichkeit gibt, die Scharte auszuwetzen. Drum habe ich mich hierher in unsere
Sonnenecke gesetzt und nachgedacht, was zu tun ist. Und ich bin zum Schluß der
Meinung, daß ich eben in Deiner Schuld bleiben muß. Wie soll ich armer Teufel
mich denn revanchieren? – Du siehst, daß Du mir zu Ostern Kopfschmerzen
bereitest. Aber ich trage diese Kopfschmerzen ganz gern, da sie ja mit Gedanken
an Dich verbunden sind; und das gleicht alles mindestens aus. Ich stelle mir
vor, daß Du jetzt um diese Zeit Deinen Sonntagsnachmittagsspaziergang beendet
hast und mit Deinen Eltern und Schwestern [wie aus Feldpostbriefen aus dem
gleichen Sperrmüllhaufen hervorgeht, ist ein älterer Bruder Hildes im Krieg
gefallen. Anmerkung A.R.] beim Abendessen sitzt. Selbst in Eurer Großstadt muß
doch jetzt eine feiertägliche Ruhe herrschen. .
Sicher scheinen die letzten Strahlen der blutroten Sonne in Euer Heim und
verheißen einen schönen zweiten Feiertag. Ich freue mich auf ihn, wie ich mich
auf jeden kommenden Tag freue. Ich fühle zur Zeit eine unbändige Tatlust in mir.
Ich bin nun flügge geworden und werde zu segeln beginnen. Wohin? Weiß kein
Mensch. Aber ich hoffe fest, daß ich das Steuer halten kann. Der Kurs zeigt
vorläufig nach Süden. Wenn sich nichts Besonderes mehr ereignet, geht die Fahrt
am 1.Mai los. Doch ausführlich darüber zu sprechen, ist noch verfrüht. In userer
schwankenden Zeit können noch so viele Umschwünge bis dahin eintreten, daß ein
ganz neues Bild entsteht. Wichtig ist der Wille und der Entschluß loszusegeln.
Zum Beginn braucht es nur einen kühnen Sprung, dann ist alles überwunden. Ich
freue mich auf diesen Sprung. Es wird schon glücken.
Bald hörst Du mehr von mir. Laß auch Du wieder etwas
hören. Unsere Briefe sollen uns miteinander verbinden.
Grüße Deine Angehörigen von mir und sei auch selbst recht
herzlich gegrüßt,
Dein Gert.
Worms, 27.4.46
Liebe Hilde!
Heute will ich Dir nur kurz für Deinen lieben Brief
danken. Die Zeitumstände erlauben es mir leider nicht, ausführlicher zu
schreiben. Es hat sich nämlich jetzt entschieden, daß ich ein Studium in
Freiburg beginne. Die Universität dort hat mir zugesagt. Ich warte jetzt nur
noch auf meinen Paß. Dann rausche ich los. Zu einer gemeinsamen Maifeier in
Dittelsheim kommt es also leider nicht mehr. Im übrigen glaube ich, daß die
„große Sache“ schon in der Nacht zum 1.Mai steigt, weil der ein Feiertag ist.
Ich war gestern abend in Dittelsheim. Doch wurde ich aus Karls und Manus Reden
nicht klug. Die beiden ändern sich wohl nie. Was sie ändern, ist ihre Meinung
und ihre Stimmung. Die wechseln sie dafür aber alle 5 Minuten. Wenn Du also am
4. Kommst, wird man den Zauber Deinetwegen sicher gern noch einmal wiederholen.
Ich selbst bin eben Tag und Nacht auf den Beinen, um die nötigen Zeugnisse,
Bescheinigungen und Abmeldungen zu bekommen. Ich laufe täglich bestimmt meine 20
km weg. Es erinnert mich fast an die alten Zeiten beim Barras. Die paar guten
Unterlagen der Osterfeiertage waren bei diesen Strapazen bald aufgesetzt. – Am
meisten gefällt mir der Bürokratismus, der bei uns herrliche Blüten treibt. Na
ja, Du weißt ja aus Erfahrung!
Nun muß ich langsam zum Schluß kommen. Heute nachmittag
gibt es hier einen Endspurt, der sich gewaschen hat. Morgen ist Sonntagsruhe; da
wird nix geschafft.
Das nächste Mal werde ich mich wieder etwas mehr
konzentrieren.
Laß Dich für heute recht herzlich grüßen von
Deinem Gert.
P.S. In Dittelsheim hat die Tanzstunde begonnen (Morch
contra Bürgermeister Herrlich)
Gert.
[laut Internet hieß der Bürgermeister von Dittelsheim 1946 nicht Herrlich,
scheint also ein Spitzname zu sein]
Freiburg/Br. 7.Mai 1946
Meine liebe Hilde!
Ich bitte Dich, mein langes Schweigen zu entschuldigen.
Aber die vergangenen 10 Tage hatten für mich soviele Ansprüche, daß ich kaum
Zeit fand zu essen. Außerdem habe so etliche km von Behörde zu Behörde
zurückgelegt. Na, Du weißt es ja selbst. Jetzt bin ich hier in Freiburg gelandet
und betätige mich schon eifrig als stud. iur. Du kannst es Dir garnicht
vorstellen, wie ich mich fühle. Tagsüber rennt man die Vorlesungen ab, stellt
sich an schier endlose Schlangen zur Essensausgabe an, dazwischen schiebt man
Kohldampf, daß es nur so kracht, und nennt dann alles ein freies studentisches
Leben. Jetzt werde ich erst der Vorteile bewußt, die man im Elternhaus hat, wo
man die Füße abends wohlgemut unter Mutters gedeckten Tisch stellen kann. Aber
alles Jammern hilft nicht. Es muß durchgebissen werden; und es wird auch
durchgebissen. Da kennen wir nix! Die schöne Umgebung versöhnt wieder
einigermaßen mit den schlechten Seiten Freiburgs, das ja als anerkannt
schlechtestes Ernährungsgebiet gilt.
Wenn die Sonne scheint und man den nahen Wald betrachtet,
dann läßt man alle Sorgen fahren. Es fehlt dann nur noch die nötige Begleitung.
Du verstehst mich?!
Aber vielleicht ist es gut so. Ich will mich doch ganz
ernsthaft meinem Studium widmen und kann deshalb keine Ablenkung brauchen. Sei
jedoch zufrieden. Abends, wenn die Sonne untergegangen ist, läßt sich immer noch
ein Viertelstündchen zum Nachdenken herausschlagen. Und dann kommst Du nicht zu
kurz.
So geht man also zwischen den haushohen Wänden der Arbeit
einher und staunt, noch mehr darüber, daß man das später auch alles beherrschen
soll. Ich glaube, daß ich noch ein guter Philosoph werde. Denn es heißt doch:
Der Anfang aller Philosophie ist das Staunen. Das tue ich wahrhaftig in vollem
Ausmaß. – Später, wenn der Stoff einmal gesichtet ist und ich mich
hindurchgewühlt habe, will ich Dir mehr davon berichten. Vorläufig soll Dir
dieser Brief nur zeigen, daß ich noch am Leben bin und dich nicht vergessen
habe. Aber wenn es möglich ist, vergiß auch mich nicht und drücke mir ab und zu
die Daumen. Denn es gibt immer noch einige Klippen zu umschiffen. Heute in acht
Tagen, am 14., steige ich schon in die erste Prüfung. Vielleicht hilft mir Dein
Gedenken ein bißchen.
Sei also mit den Deinen recht herzlich
gegrüßt,
Dein Gert.
Freiburg, 13.6.46
Meine liebe Hilde!
Als ich gestern aus meinem kurzen Pfingsturlaub in Worms
wieder hier eintraf, fand ich Deine liebe Post vor.
Ich dachte schon, Du hättest Dich vergessen, und war mächtig böse auf Dich. Aber
jetzt hat sich ja alles aufgeklärt. Vor allem danke ich Dir für deinen
Geburtstagsgruß. Heute ist ja wieder einmal der 13. Und so ist es ganz sinnig,
daß ich mich jetzt bedanke. Wie schnell vergeht doch die Zeit! Ich war kaum ein
wenig an den Betrieb an der Uni gewöhnt, als ich zum Studenteneinsatz berufen
wurde und beinahe 2 Wochen schippender- und klopfenderweise verbringen mußte.
Gleich danach ging es nach Hause; denn es war mittlerweile Pfingsten geworden.
Die 4 Tage zu Hause genügten gerade, um den Magen wieder einmal vollzumachen und
allen möglichen Leuten Anstandsbesuche zu machen. Jetzt habe ich mich endlich
richtig ins Studium gerannt und glaube, das die nächsten 7 Wochen bis
Semesterschluß wie im Fluge vergehen werden.
Ich habe natürlich viel nachzuholen und besonders die
Prüfung am Ende des Semesters soll so gut wie möglich ausfallen. Da bleibt
natürlich nur wenig Zeit für mich selbst. Und ebenso macht mir das recht wenig
Spaß.
Der einzige Bundesgenosse der Arbeit ist das Wetter. Es
regnet und stürmt, daß man sich kaum vors Haus traut und sich hinter seine
Folianten vergräbt. Hoffen wir, daß etwas herausspringt.
In Worms war ich auch mal wieder ordentlich baden. Auch
in Amerika war ich drüben und beinahe hätten mich die lieben Ammies mit einem
Jeep überrascht. Es wäre doch recht unangenehm gewesen, in Badehosen ins
Gefängnis zu wandern. Drum bin ich auch wie Winnetou zum Ufer zurückgekrochen
und habe mich versteckt, bis die Kaugummileute vorbeigerauscht waren.
Auch in Dittelsheim war ich, habe allerdings nur mit
Karlchen gesprochen. Aber der wird mit zunehmenden Alter auch nicht
gesprächiger. So konnte ich nur das Gröbste erfahren. Als ich hörte, daß Du so
lange da warst, konnte ich mir dann die Gründe für Dein Schweigen unschwer
zusammenreimen.
Heute abend habe ich noch zwei Vorträge über Demokratie
und ihre Auswirkung auf das Recht. Die Kenntnis dieser Dinge ist für mich ja von
ungeheurer Bedeutung und deshalb muß ich nun schließen.
Grüße bitte Frankfurt und Deine Eltern von mir und
empfange auch von mir lebe Grüße,
Dein Gert.
Freiburg, 27.7.46
Meine liebe Hilde!
Ich bin in Angst um Dich. Was hast Du nur für seltsame
Gedanken? Wenn ein nettes junges Mädel vom Tanzen kommt, sollte es doch über
andere Dinge nachdenken. Warum sollten wir uns nicht wiedersehen? Die Welt ist
so klein. Die Zonengrenzen halten auch nicht ewig vor. Also heißt es ein wenig
Geduld haben. Ich hoffe doch, daß Du inzwischen Deine Melancholie wieder
verloren hast. Sicher war uns etwas „über die Leber gelaufen“. Aber wo käme man
denn hin, wenn man alles , was da kreucht und fleucht, beachten wollte. Laß es
doch laufen. Sing Dir ein Lied – Dukennst ja so viele schöne -, oder pfeif
drauf; es ist alles gleich, es wird Dir schon drüber weg helfen. Ich mache es
genau so.Ich habe hier auch täglich Scherereien. Aber die Leute erscheinen mir
viel zu wertlos, als daß ich meine kostbare Nervenkraft für sie aufopfern
sollte. Ich arbeite meinen Teil und den richtig; das genügt. Was darüber ist,
das ist vom Übel.
Du merkst vielleicht, daß ich in besonderer Stimmung bin.
Übermorgen geht es nach Hause. Das Semester habe ich mit Glanz und tollen
Zeugnissen hinter mich gebracht. Jetzt geht der andere Teil des Lebens los, der
darin besteht, das nächste Semester „voorzubereiten“. Vorerst fahre ich nach
Worms. Natürlich habe ich jetzt viel zu tun und deshalb muß dies Briefchen ganz
kurz sein. Doch Du schreibst mir gleich in die B…straße, dann werde ich Dir
wieder ausführlich antworten.
Viele liebe Grüße für heut‘
Dein Gert.
Worms, 22.8.46
Meine liebe Hilde!
Heute an Deinem Geburtstag will ich noch ein Stündchen
ganz den Gedanken an Dich widmen und Dir auch für Deine liebenswürdige Einladung
danken. Leider ist es mir nicht möglich, mich frei zu machen, um Dir einen
Besuch abzustatten. Obwohl ich eigentlich Ferien habe und ausspannen sollte, bin
ich garnicht Herr der Lage. Der Alltag mit seinen vielen nichtigen und in ihrer
Masse doch wirkenden Aufgaben hat mich ganz umfangen. Morgens bin ich gewöhnlich
hier auf dem Amtsgericht und nehme an Verhandlungen teil. Nachmittags arbeite
ich ein wenig in meinen Büchern oder unternehme eine Streiffahrt durch die
nähere Umgebung aus bekannten Gründen. Nur einige wenige Nachmittage, die
besonders schön waren, habe ich mir gewaltsam zum Baden freigemacht. Weil das
Wetter in den letzten Tagen nicht ganz einwandfrei war, habe ich sogar
vorgezogen, in Worms weiterzuarbeiten und nicht in Dittelsheim die Zeit zu
verbummeln. Ich muß jetzt morgen unbedingt hin, zumal ich erfuhr, daß Morch am
Sonntag ein Abschlußkränzchen seiner Tanzstunde aufziehen will. Da komme ich
endlich auch mal wieder zu einem Tanz. Ich sehne mich richtig danach. Freilich
ist die Sache von der Militärregierung noch nicht genehmigt; der fromme
Bürgermeister, der den Tanz verabscheut wie der Teufel, hat anscheinend seine
Hände drin. Morch selbst hat mir sein Leid geklagt. Der arme Kerl!
Ja, gern hätte ich Dich besucht, aber abgesehen von den
Paßschwierigkeiten (ich habe nur einen für die südfranzösische Zone) – sitze ich
hier fest wie die Fliege im Spinnennetz. Je mehr ich wurschtele, desto mehr
Fäden entdecke ich. Du mußt also mit meinen Grüßen vorlieb nehmen. Sei nicht
böse darüber, bitte! Ich denke recht lieb an Dich; Du wirst es merken, ja? Aber
leider ist unsere Zeit nicht geschaffen zum Ausruhe und ich persönlich fühle
mich am wenigsten wohl, wenn ich zusehe, wie andere arbeiten. Aber ich hoffe
doch, daß wir nach einer gewissen Spanne auch wieder die volle Berechtigung in
Anspruch nehmen können, einmal ganz allein für uns leben, ohne durch das
ruhelose Treiben der Welt gestört zu werden.
Dann, liebe Hilde, wollen und werden wir den Tag, den ich
heute versäumen muß, nachholen.
Es ist Dein Ehrentag und hoffentlich hast Du ihn
ordentlich begangen.
Wenn es möglich ist, daß gute Wünsche aus der Ferne zu
dem Gelingen eines Tages beitragen können, dann kann nichts schiefgehen.
Dich grüße ich recht herzlich und
bleibe Dein
Gert
Dittelsheim, 1.9.46
Meine liebe Hilde!
Sonntagmorgen in Dittelsheim! Seit über acht Tagen bin
ich nun hier. Die Zeit war ausgefüllt mit der üblichen Arbeit, über die ich Dir
nicht zu schreiben brauche. Du kennst sie selbst. Vielmehr wird Dich das
gesellschaftliche Leben hier interessieren. Ich will Dir in aller Kürze davon
berichten. Am Freitag vor acht Tagen kam ich hierher. Die erste Überraschung war
am Samstagmittag (!) die Mitteilung, daß die Tanzbelustigung der „Kerb“ und
damit sie selbst am darauffolgenden Sonntag stattfinden werde. Ich fuhr sofort
nach Hause und kam am Sonntagfrüh um ½ 5 Uhr mit meinem besten Anzug nach
Dittelsheim zurück. Die Tanzmusik, von Meister Morch mühsam inszeniert, fand in
Verbindung mit dem Tanzkränzchen der Tanzstunde im „Saale Metzler“ statt. Um 16
Uhr ging es los und bis zum Montagfrüh um 6 Uhr durch. Ich war gespannt wie ein
Regenschirm, aber es gab eine Enttäuschung. Die Musikanten strengten sich
gewaltig an, besonders Meister Rink mit seiner Posaune, aber es blieb unter
Morchs Leitung doch nur bei Altvätertänzchen. Ich ging in der Nacht zweimal nach
Hause, um an Webers Radio flotte Musik zu hören. Die zweite Enttäuschung war
unsere „Kippe“* Hans und Werner, die Stimmungsmacher, sind ausgeschieden und zu
ihren alten Lieben zurückgekehrt. Dadurch ist in dem altgewohnten Trubel Ruhe
eingetreten, die einzelnen Pärchen haben sich herauskristallisiert und jeder
andere wird als Fremdkörper empfunden. Der einzige „Alte“ ist Albert. Er kann es
sich ja leisten. Die anderen streben mit Riesenschritten der Verlobung zu. Ich
wünsche es ihnen ja wohl recht bald und freue mich darüber, aber ich bedauere
doch, daß der alte herzliche Ton nicht mehr so ohne weiteres möglich ist. Aus
diesem Grund verlief die erste Kerwenacht etwas einseitig. Aber es war trotzdem
recht nett. Man muß halt zufrieden sein. Es ist nur schade, daß Du nicht dabei
warst. Wahrscheinlich wird die eigentliche Kerbe in 14 Tagen wegen der Wahl
ausfallen. Aber trotzdem gehen natürlich Gerüchte…
Aber schon die Paßschwierigkeiten sind ja kaum zu
überbrücken. Zudem weiß man garnicht, was die seltsame Schaffung des Landes
Rheinpfalz im Gefolge hat. In der vergangenen Woche war ich noch einmal mit dem
Verein beisammen, bei Deboben zum Zwetschgenkernen. Es dauerte aber bei weitem
nicht so lange wie im vorigen Jahr. Und es war auch viel weniger nett. Ich bin
eben fremd geworden. Für Dich ist es aber sicher anders. Drum rate ich Dir,
komme mal kurz vorbei. Du wirst es schon schaffen. Ich selbst habe noch 5 Wochen
Ferien, die ich wahrscheinlich in Worms verbringe. Dann können auch wir uns
wiedersehen.
Hast Du keine Lust?
Wir können doch über alles, was wir in Briefen nur kurz
andeuten können, ausführlich plaudern.
Herzliche Grüße, Gert
* Kippe - ein Wort aus dem Jenischen /Rotwelschen, heute
würde man eher Clique sagen
Freiburg, 1. Advent 1946
[01.12.]
Liebe Hilde!
Es ist ganz rührend von Dir wie Du um mich besorgt bist.
Deine Briefe und das köstliche Paket habe ich mit großer Freude erhalten. Der
Kuchen, der in der heutigen Zeit und in unserer Zone eine unschätzbare
Kostbarkeit darstellt, trug ganz wesentlich dazu bei, meine Adventsstimmung zu
einem ungeahnten Höhepunkt kommen zu lassen. So feierlich wie heute morgen war
es mir schon lange nicht mehr zumute. Ich danke Dir. Doch ich fürchte, daß Du
ein wenig zu viel zwischen meinen Zeilen liest. Denn so schlecht, wie Du
annimmst, geht es mir wirklich nicht. Dank der Güte meiner Wirtin ist es mir
doch noch ein Leichtes, mein Leben zu fristen. Wenn meine Stimmung in den
letzten Briefen etwas zu schwarzseherisch gewesen sein sollte, dann ist es wohl
zum größten Teil auf die Arbeitsüberlastung zurückzuführen. Ich bin aber jetzt
in der glücklichen Lage, die Früchte meiner Arbeit zu ziehen, und es ist doch
immer ein schönes Gefühl, in der Ernte die Größe und Schwere der Mühen
wiedererkennen zu können, die hinter einem liegen. Deshalb bereue ich ich es
garnicht, daß ich mich so sehr auf die Arbeit gestürzt habe. Allerdings ist es
jetzt auch nötig auszuspannen. Ich freue mich mächtig auf die Heimreise, die ich
wahrscheinlich morgen in acht Tagen antrete. Die erste Semesterhälfte geht am
Freitag zu Ende.
Dein Lebenskreis ist, wie ich sehe, immer noch der
gleiche. Ich kann Dich sehr gut verstehen, daß Du die Stellung unter allen
Umständen halten willst. Aber trotzdem wird die Stellung nicht so vorzüglich
sein, daß Du ohne Verlust abgehen könntest. Lege es bitte nicht als
Undankbarkeit aus, wenn ich Dich bitte, in Zukunft den Überschuß lieber Deinen
Angehörigen zukommen zu lassen. Ich laß‘ mich nur von der Erfahrung leiten, daß
jeder gerade für sich selbst zu kämpfen hat. In der ersten Linie mußt Du aber
für Deine Familie sorgen. Ich schlage mich schon durch.
Laß Dich und Deine Eltern und Geschwister nun herzlich
grüßen.
Eine frohe Adventszeit!
Dein Gert