Alexander Ruhe: 1946 - Liebesbriefe vom Sperrmüll.  Romeo und Julia jenseits der Zonengrenzen. Januar 2018

Die hier folgenden Briefe habe ich Ende der 1990er Jahre aus einem Sperrmüllhaufen im Frankfurter Gallusviertel gezogen, auf dem neben Töpfen und Tassen auch viele Fotos und Briefe und außerdem der gesamte Hausrat einer älteren Dame lag – wahrscheinlich war sie verstorben.

Besonders interessant fand ich die Briefe, die ihr ein Gert über die französisch-amerikanische Zonengrenze geschrieben hatte. Eine anfänglich noch frische Liebe wird, da Gert nicht nach Frankfurt ziehen darf, immer kühler, bis er dann ganz aufhört zu schreiben (oder Hilde die Briefe nicht mehr aufgehoben hat). Viel interessanter finde ich die vielen Details über das Leben direkt nach dem Krieg, an dem der Abiturient Gert noch als Soldat teilgenommen hatte. Die Briefe berichten über Hunger, Trümmerräumen, die Verkehrszustände, Grenzkontrollen der Amerikaner, das Studentenleben in Freiburg und vieles mehr.

Nachnamen und Adressen – einige Briefumschläge sind auch noch erhalten – habe ich selbstverständlich gestrichen, ansonsten habe ich die Briefe wortgetreu transkribiert, samt alter Rechtschreibung und Rechtschreibfehlern – nur überraschend wenigen, bei einer, für einen 18-19 jährigen, ausnehmend schönen Schrift.

In Form einer öffentlichen Lesung habe ich bereits 2005 Teile aus diesen Briefen vorgetragen, in ganzer Länge erscheinen sie erst jetzt, wo ich mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass sowohl Hilde als auch Gert mittlerweile verstorben sind.

 

Die Briefe

Worms, 29.11.45

Liebe Hilde!

Leider traf ich Dich bei meinem gestrigen Blitzbesuch nicht an. Ich habe jedoch Frau Winter eröffnet, warum ich gekommen war, und so wirst Du ja das wichtigste schon wissen. Am 8.Dezember steigt ein kleiner Klassenkommers der hochwohllöblichen Oberprima des Gymnasiums zu Worms, den ich mit etwas Frankfurter und Dittelsheimer Geist ausstatten möchte. Du stellst nun die richtige Mischung dar, die unserem Kommers noch fehlt, und ich lade Dich deshalb recht herzlich dazu ein. Vor allem möchte aber ich mir mal wieder Dittelsheimer Luft um die Nase wehen lassen; weil dies aber aus Zeitmangel mir nicht möglich ist, musst Du schon so freundlich sein, die Luft, die ich so sehr hier in Worms entbehre, herbeizuschaffen. Ich glaube, dass ich mich deutlich genug ausgedrückt habe und Du nur noch den einen Wunsch hast, mir mein Heimweh nach Dittelsheim zu vertreiben.

Ich hatte mir gedacht, dass Du mit dem Spätzug hierherkommst, ich Dich am Bahnhof abhole und wir beide uns dann zur Festlichkeit begeben. Am Sonntagmorgen bringe ich Dich wieder zur Bahn oder fahre sogar, wenn es die Zeit erlaubt, zu einem Besuch mit nach Dittelsheim. Du brauchst nur eine gute Stimmung mitzubringen; für alles andere ist gesorgt. Aber auch mit schlechter Stimmung bist Du willkommen. Die gute kommt dann von selbst. – So ist also mein Plan. Ob er ausgeführt wird, liegt nun bei Dir. Ich bitte Dich nochmals recht herzlich: Komm! Nun möchte ich Dich zum Schluß noch bitten, mir über Deinen Entschluß Bescheid zu geben, und zwar möglichst bald. Eigentlich gibt es ja nur einen Entschluß, aber ich möchte es natürlich genau wissen. Die Vorfreude soll ja fast noch schöner sein als die richtige. Ich wohne hier B...straße 8 II. Du wirst schon einen Weg finden, mir die Nachricht zukommen zu lassen.

Grüße mir bitte die Dittelsheimer recht schön.

Auf baldiges Wiedersehen in Worms!

Gert.

 

 

Worms, 28.02.46

Liebe Hilde!

Du hast mir eine ganz große Freude bereitet, dass Du mir geschrieben hast. Nun fühle ich mich etwas schuldbewusst, dass ich nicht zuerst schrieb. Denn nach Deiner Karte aus Rastatt, für die ich herzlich danke, war ich ja wieder an der Reihe. Aber ich hatte mir schon von Hanna Deine Adresse besorgt und hatte die feste Absicht, noch in dieser Woche zu schreiben. Nun bist Du mir also zuvorgekommen.

Du hast mir wieder ein bisschen Auftrieb gegeben. Denn wenn ich mir vorstelle, wie Du an Eurer neuen Wohnung wirkst, dann muß ich mich entschließen, gegen all die Schwierigkeiten mit frischem Mut anzugehen, vor denen ich nun fast kapituliert hätte. Du weißt, ich stehe eben drei Wochen vor dem Abitur. Man hatte mich vor drei Wochen wieder einmal, wie schon an Weihnachten suspendiert und meine ganze Laufbahn schien über den Haufen geworfen. Seit heute darf ich nun wieder die Schule besuchen. Zugleich mit deinem Brief kam die Erlaubnis. Es war für mich ein Zeichen, auf keinen Fall nachzugeben und die Waffen zu strecken. Vielleicht können wir uns gegenseitig ein wenig stützen. Wir sind doch in gewisser Hinsicht ein wenig miteinander verwandt, nicht wahr? Du weißt, was ich meine. Und wenn ich also daran denken kann, dass Du drüben mit ähnlichen Hindernissen kämpfst und Dich nicht unterkriegen lässt, dann kann ich sicher ebenso stark sein wie Du. Und umgekehrt bestärkt es Dich, dass ich Dir nacheifere. Wollen wir also?

Es hätte nicht viel gefehlt, dass ich heute nach Frankfurt gefahren wäre. Ich muß mich mal auf der Universität umsehen. Nun kam mir die Schule dazwischen. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Ich werde Euch natürlich heimsuchen, wenn ich in Frankfurt bin. Frankfurt zieht mich übrigens mehr als je an (Merkst Du was?) Ich war vor anderthalb Wochen in Dittelsheim. Es war furchtbar langweilig. Ich bin gleich wieder abgerückt; denn es fehlte was. Ich bin mir jetzt auch klar darüber, dass in Dittelsheim mich weniger die Dittelsheimer Eigenart als vielmehr der Frankfurter Geist angezogen hat. Die Leute an sich sind ja dort so schwerfällig. Dieses belebende Element fehlte neulich. Er ist nach Frankfurt abgereist. Aber ich werde es dort aufzufinden wissen !

Sonst ist von hier wenig zu berichten. Ich lerne halt fest. Die Tanzstunde geht ihrem Ende zu. Der Schnee ist jetzt gekommen. Natürlich kann ihn nun kein Mensch mehr brauchen.

Das sind aber lauter belanglose Dinge. Wichtiger ist schon, dass nächste Woche Fastnacht ist, bedauerlich, dass man hier in Worms alleine herumsitzt, am entscheidensten aber ist der Entschluß, dass nach dem Abitur etwas ganz tolles steigen muß. Machst Du mit ? Na, wir werden noch darüber weiter sprechen.

Laß bald etwas von Dir hören und versäume es ja nicht, wenn Du nach Dittelsheim fährst, mich in Worms zu besuchen.

Richte bitte Deinem Vater herzliche Grüße aus. Ich wünsche ihm gute Besserung !

Dir aber wünsche ich viel Glück beim Neubau und als Gute !

Dein Gert.

 

 

Worms, 22.03.46

Meine liebe Hilde!

Ich habe mein Versprechen nun doch nicht gehalten. Eigentlich wollte ich Dir ja schon gestern schreiben. Aber es ging beim besten Willen nicht. Doch heute ist es darum nicht weniger herzlich.

 

Hoffentlich bist Du wieder glücklich drüben gelandet. Ich habe am Dienstag fest den Daumen gedrückt. Deinen Gegendruck habe ich übrigens auch gespürt. Die Sache verlief verhältnismäßig glatt. Nur am Donnerstag mußt Du etwas nachlässig gewesen sein. Denn ich habe das seltsame Gefühl, als ob die Arbeit in Deutsch daneben geraten wäre. Doch habe keine Angst! Ich gebe Dir nicht die Schuld. Die Themen lagen mir nicht. Ich konnte mich nicht austobe und geriet deshalb vielleicht in eine falsche Richtung. Doch, wie gesagt, es ist nur so ein Gefühl. Das Deutsch schmeißt den Karren noch lange nicht um. Mit dem anderen Kram bin ich ganz zufrieden. Es bleibt nun die mündliche Prüfung am 06.April abzuwarten. Das wird noch ein anstrengender Höhepunkt., während die vergangenen vier Tage recht gemütlich waren. Vor allem war die Schonung meiner werten Persönlichkeit durch meine Eltern in dieser Zeit ganz enorm. Ich kam mir vor wie irgendein Erbprinz, dem alle Leute die Wünsche an der Nase ablesen. Mittlerweile hat sich auch das wieder geändert.

Ich habe vor am nächsten Dienstag Frankfurt unsicher zu machen. Vielleicht bin ich eher dort, als dieser Brief hier. Ich will Dich natürlich besuchen. Wann das ist im Verlauf des Tages, hängt von der Erledigung meiner Geschäfte an der Universität ab. Versämen werde ich den Besuch aber auf keinen Fall.

Dann können wir uns über einiges unterhalten, was am Sonntag nicht zur Sprache kam. Habt Ihr eigentlich Wilmas Geburtstag nett gefeiert? Heute traf ich Manu in Worms. Er erging sich in dunklen Andeutungen über Verwirrungen, die entstanden seien. Genaueres konnte er mir wegen der Kürze der Zeit nicht sagen. Vielleicht wollte er auch nicht. Sicher ist es das übliche Spiel zwischen Karl und Hella. Da habe ich keine Sorgen. Das wird wieder. Das ist bis jetzt immer wieder geworden. Warum sollte es auch nicht?

Unsere Tanzstunde ist nun bald zu Ende. Doch wir werden uns das Vergnügen erhalten. Es ist doch wirklich das einzige in unserer trübseligen Zeit. Gestern hast Du hier gefehlt. Wir haben eine kleine Verzweiflungsfeier über unser „Schriftliches“ steigen lassen. Die Stimmung entsprach durchaus nicht der Verzweiflung- daraufhin schluckten wir heute früh im Griechischen beinahe unseren Lehrer hinunter. So – müde waren wir.

Für heute schließe ich mit vielen lieben Grüßen.

Auf ein baldiges Wiedersehen

Dein Gert.

 

 

Worms, 26.03.46 21h

Meine liebe Hilde!

Die Reise verlief ohne besondere Ereignisse. Alles klappte wie am Schnürchen. Den Paß brauchte ich „fast garnicht“. Auf mein treuherziges Gesicht hin ließ man mich ungehindert ziehen. Ich machte lange Beine und erreichte so auch noch meinen Zug in Mainz. Um ½ 8 Uhr war ich zu Hause.

Hier war Hochstimmung. Ingrid spielte mit ihren Freundinnen Theater. Es war zum Schießen. Das Einmaleins kann sie zwar nicht oder nur lückenhaft, aber sonst…! Ich bekam noch einen Stehplatz. Während der Vorstellung las ich vor allem einmal in Ruhe Deinen Brief. Es fiel garnicht auf, weil ich ganz hinten stand. Ich habe mich mehr als gefreut über Deine Auffassung von unserem Samstagabend. Auch ich ging damals mit einem Gefühl der Zufriedenheit weg. Aber später kamen mir Zweifel, ob ich mich denn wirklich richtig benommen hätte. Es ist die Tragik des Menschen, daß er dann, wenn er etwas Gutes vollbracht hat, sich dessen meistens nicht bewußt ist, und umgekehrt, daß er nichtige Dinge zu seinen größten Taten zählt. So ging es auch mir. Wenn zwei Menschen sich hohe Dinge sagen, dann kommt es leicht vor, daß ein einziges, etwas leichtfertig ausgesprochenes Wort die Stimmung zerreißt und in ihr Gegenteil umkehrt. Darum werde ich in solchen Fällen, wenn ich meine Gedanken angedeutet habe, schweigsam. Das Gespräch schläft ein, nur ab und zu klingt ein Wort auf. Dazwischen liegen aber die Pausen voll tiefer Gedanken. Warum sollte man denn auch sie aussprechen? Wenn sie der Partner nicht erfüllt, sind sie sowieso umsonst. Stimmt er mit mir überein, bedarf es der Worte nicht, die doch nicht die Fülle des Gedanken wiedergeben können.

So kamen mir also Zweifel, ob Du mich verstanden hattest. Dein Brief hat mich beruhigt. Er sagt mir, daß meine Zufriedenheit keine Selbsttäuschung war. Deine Übereinstimmung mit mir läßt nun alles in einem besonderen Licht erscheinen. Das Geheimnis eines schönen Abends mit Dir gibt mir jetzt die innere Freude, die mir früher ein geglückter Lausbubenstreich gab. Was wiegt dann aber gegen solch eine reine harmlose Freude die Auswürfe, die mehr oder weniger schmutzige Zungen uns anzuhängen bereit wären. Ich habe mich mit dieser Sorte von Menschen nie identisch gefühlt. Drum sollen sie uns auch nicht im geringsten stören. Wir wissen, was wir uns und der Welt schuldig sind. Man hat us ja früh genug darauf hingestoßen. Wir genügen uns selbst!

Je mehr ich über meinen heutigen Besuch nachdenke, desto netter erscheint er mir. Es war für mich äußerst interessant, Deine Eltern kennenzulernen. Übrigens sind unsere beiden Vatis das gleiche Kaliber. In jeder Beziehung; sogar du gerade in ihrem Verhältnis zu ihren jüngsten Zöchlings. Wenn man sie beide zusammenbringen würde, ich glaube, man könnte ein Buch darüber schreiben.

 Als ziemlich dunkle Geschichte geht mir immer noch im Kopf herum, wie ich es gutmache, daß ich Euch des Essens beraubt habe. Ich werde eine Lösung finden, ganz bestimmt! Hoffentlich kann ich schlafen.

Bevor ich aber einzuschlafen versuche, werde ich in Gedanken das tun, was ich im Bahnhof „aus Anstand“ unterließ, was ich aber sehr bald „in natura“ nachholen werde:

Ich werde fest an Dich denken und Dir einen herzhaften Kuß geben.

Dein Gert

 

 

Worms, 10.04.46

Meine liebe Hilde!

Für Deinen Brief mit dem netten kleinen Frühlingsgruß meinen herzlichen Dank. Er kam gerade an dem Tag vor dem mündlichen Abitur bei mir an. Ich steckte ihn natürlich ein und hatte ihn deshalb in der Prüfung dabei. Sicher ist es daher so leicht gegangen. Ich habe noch einmal mächtig Eindruck geschunden. Ich war das ja meiner ehre schuldig. Ein ganz tolles Zeugnis war das Ergebnis. Ich habe selbst gestaunt. Aber besser staunen, als enttäuscht sein. Nun kurz die Noten: alles ist „gut“, außer Biologie, Chemie und Englisch. Da hat man mir „sehr gut“ hingeschrieben. Ob das eine Aufforderung ist, in der Landwirtschaft zu bleiben? Fast scheint es mir so. Vorläufig hoffe ich noch, daß der Antrag in Frankfurt durchgeht. Aber ich hörte, daß die Anträge sich häufen sollen. Es wird schon schiefgehen.

Warst Du über Sonntag in Dittelsheim? Ich wollte eigentlich am Sonntagabend hinfahren. Aber leider war ich krank und Onkel Doktor verordnete mir Bettruhe. Die Splitter, die ich vor einem Jahr abkriegte, haben anscheinend eine Rundreise unternommen und wollen jetzt wieder raus. Ich habe grundsätzlich nichts dagegen. Nur dürfte es weniger schmerzhaft vonstattengehen. Inzwischen bessert sich aber die Lage zusehends. Zum Kommers am Freitag muß alles klar sein.

Heute nur ganz kurz. Ich habe unheimlich zu tun. Als Primus bin ich natürlich für die Kommerszeitung verantwortlich. Später mehr.

Recht herzliche Grüße,

Dein Gerd

 

 

Worms, 20.4.1946

Meine liebe Hilde!

Heute morgen kam Dein lieber Brief an, für den ich recht herzlich danke. Mir ist mit hörbarem Poltern ein kleiner Felsen vom Herzen gefallen. Ich hatte doch ein schlechtes Gewissen. Na, jetzt bin ich doch beruhigt. Und ich habe wieder eine Lehre gezogen. Man weiß nie, wozu es gut ist, wenn man morgens verschläft. – Ich selbst hatte in der Lateinstunde das Gefühl, als ob mich meine Schülerin ganz besonders interessiert ansähe, aber nicht nur wegen der Lehren der Weisheit, die sie von mir erhielt. Ich habe mich aber nicht aus der Ruhe bringen lassen. Von Knierim hörte ich, daß er in der ersten Stunde noch etwas matt gewesen sei, dafür aber später umso fester gewirkt habe. Übrigens habe er auch wieder das alte Problem „über die Relativität der Begriffe vorn und hinten“ aufgeworfen. Beim Kommers sei er aber leichter zum Endresultat gekommen. Wahrscheinlich war die beschwingte Stimmung daran schuld. – Ich habe am Samstagnachmittag etwas geschlafen und war am Abend kreuzfidel. Was ein Mensch doch nicht alles ertragen kann?

Trotzdem habe ich mich etwas herausgehalten aus dem ganzen Trubel, der in der vergangenen Woche stattfand. Doch vor der nächsten Woche graut mir wieder ein wenig. Die Einladungen häufen sich. Es wird meine ganzen Kräfte in Anspruch nehmen. Vor allem bin ich auf eine „Kellerdutt“ bei unserem Theologen in Guntersblum gespannt, zu der auch Knierim kommen wird. „Es ist ganz gut, daß die Erfindung der Kellerdecke gemacht worden ist; denn…“

Du hast sicher Deine Backsteine alle zusammengehamstert. Hoffentlich läßt man Dir jetzt ein bißchen Ruhe. Wenigstens über die Feiertage. Du hast sie verdient. Vielleicht kannst Du mit wieder etwas Däumchen halten, damit die Sache mit der Universität klappt. Leider läuft nun heute mein Paß nach Ffm. Ab Die Aussicht, wieder einen zu kriegen, ist sehr gering. Trotzdem hoffe ich, Dich bald wieder einmal zu sehen. Vielleicht in Dittelsheim?

Für heute viele liebe Grüße und „Frohe Ostern“

Dein Gert

 

 

Worms, Ostersonntag 1946

[21.April]

Meine liebe Hilde!

Heute Morgen kam Dein herzlicher Ostergruß hier an und ich bin erfreut und beschämt zugleich. Erfreut bin ich über Deine liebe Art, an mich und meine Angehörigen zu denken, beschämt darüber, daß es mir wohl nie gelingen wird, in einem solch kurzen Brief soviel Herzlichkeit hineinzulegen, und daß ich Dir nicht einmal annähernd für Deinen Brief danken kann. Es gehört eben etwas ganz Weibliches dazu, so zu schreiben. Wir männlichen Wesen sind selbst in unserer weichsten Stimmung noch zu hart im Vergleich zu dem, was eine Frau fühlen kann. Ich könnte dies nun als Entschuldigung für mich vorbringen, Aber ich entschuldige mich nicht gern, solange es vielleicht noch eine Möglichkeit gibt, die Scharte auszuwetzen. Drum habe ich mich hierher in unsere Sonnenecke gesetzt und nachgedacht, was zu tun ist. Und ich bin zum Schluß der Meinung, daß ich eben in Deiner Schuld bleiben muß. Wie soll ich armer Teufel mich denn revanchieren? – Du siehst, daß Du mir zu Ostern Kopfschmerzen bereitest. Aber ich trage diese Kopfschmerzen ganz gern, da sie ja mit Gedanken an Dich verbunden sind; und das gleicht alles mindestens aus. Ich stelle mir vor, daß Du jetzt um diese Zeit Deinen Sonntagsnachmittagsspaziergang beendet hast und mit Deinen Eltern und Schwestern [wie aus Feldpostbriefen aus dem gleichen Sperrmüllhaufen hervorgeht, ist ein älterer Bruder Hildes im Krieg gefallen. Anmerkung A.R.] beim Abendessen sitzt. Selbst in Eurer Großstadt muß doch jetzt eine feiertägliche Ruhe herrschen. .  Sicher scheinen die letzten Strahlen der blutroten Sonne in Euer Heim und verheißen einen schönen zweiten Feiertag. Ich freue mich auf ihn, wie ich mich auf jeden kommenden Tag freue. Ich fühle zur Zeit eine unbändige Tatlust in mir. Ich bin nun flügge geworden und werde zu segeln beginnen. Wohin? Weiß kein Mensch. Aber ich hoffe fest, daß ich das Steuer halten kann. Der Kurs zeigt vorläufig nach Süden. Wenn sich nichts Besonderes mehr ereignet, geht die Fahrt am 1.Mai los. Doch ausführlich darüber zu sprechen, ist noch verfrüht. In userer schwankenden Zeit können noch so viele Umschwünge bis dahin eintreten, daß ein ganz neues Bild entsteht. Wichtig ist der Wille und der Entschluß loszusegeln. Zum Beginn braucht es nur einen kühnen Sprung, dann ist alles überwunden. Ich freue mich auf diesen Sprung. Es wird schon glücken.

Bald hörst Du mehr von mir. Laß auch Du wieder etwas hören. Unsere Briefe sollen uns miteinander verbinden.

Grüße Deine Angehörigen von mir und sei auch selbst recht herzlich gegrüßt,

Dein Gert.

 

Worms, 27.4.46

Liebe Hilde!

Heute will ich Dir nur kurz für Deinen lieben Brief danken. Die Zeitumstände erlauben es mir leider nicht, ausführlicher zu schreiben. Es hat sich nämlich jetzt entschieden, daß ich ein Studium in Freiburg beginne. Die Universität dort hat mir zugesagt. Ich warte jetzt nur noch auf meinen Paß. Dann rausche ich los. Zu einer gemeinsamen Maifeier in Dittelsheim kommt es also leider nicht mehr. Im übrigen glaube ich, daß die „große Sache“ schon in der Nacht zum 1.Mai steigt, weil der ein Feiertag ist. Ich war gestern abend in Dittelsheim. Doch wurde ich aus Karls und Manus Reden nicht klug. Die beiden ändern sich wohl nie. Was sie ändern, ist ihre Meinung und ihre Stimmung. Die wechseln sie dafür aber alle 5 Minuten. Wenn Du also am 4. Kommst, wird man den Zauber Deinetwegen sicher gern noch einmal wiederholen. Ich selbst bin eben Tag und Nacht auf den Beinen, um die nötigen Zeugnisse, Bescheinigungen und Abmeldungen zu bekommen. Ich laufe täglich bestimmt meine 20 km weg. Es erinnert mich fast an die alten Zeiten beim Barras. Die paar guten Unterlagen der Osterfeiertage waren bei diesen Strapazen bald aufgesetzt. – Am meisten gefällt mir der Bürokratismus, der bei uns herrliche Blüten treibt. Na ja, Du weißt ja aus Erfahrung!

Nun muß ich langsam zum Schluß kommen. Heute nachmittag gibt es hier einen Endspurt, der sich gewaschen hat. Morgen ist Sonntagsruhe; da wird nix geschafft.

 

Das nächste Mal werde ich mich wieder etwas mehr konzentrieren.

Laß Dich für heute recht herzlich grüßen von

Deinem Gert.

P.S. In Dittelsheim hat die Tanzstunde begonnen (Morch contra Bürgermeister Herrlich)  Gert.

[laut Internet hieß der Bürgermeister von Dittelsheim 1946 nicht Herrlich, scheint also ein Spitzname zu sein]

 

 

Freiburg/Br. 7.Mai 1946

Meine liebe Hilde!

Ich bitte Dich, mein langes Schweigen zu entschuldigen. Aber die vergangenen 10 Tage hatten für mich soviele Ansprüche, daß ich kaum Zeit fand zu essen. Außerdem habe so etliche km von Behörde zu Behörde zurückgelegt. Na, Du weißt es ja selbst. Jetzt bin ich hier in Freiburg gelandet und betätige mich schon eifrig als stud. iur. Du kannst es Dir garnicht vorstellen, wie ich mich fühle. Tagsüber rennt man die Vorlesungen ab, stellt sich an schier endlose Schlangen zur Essensausgabe an, dazwischen schiebt man Kohldampf, daß es nur so kracht, und nennt dann alles ein freies studentisches Leben. Jetzt werde ich erst der Vorteile bewußt, die man im Elternhaus hat, wo man die Füße abends wohlgemut unter Mutters gedeckten Tisch stellen kann. Aber alles Jammern hilft nicht. Es muß durchgebissen werden; und es wird auch durchgebissen. Da kennen wir nix! Die schöne Umgebung versöhnt wieder einigermaßen mit den schlechten Seiten Freiburgs, das ja als anerkannt schlechtestes Ernährungsgebiet gilt.

Wenn die Sonne scheint und man den nahen Wald betrachtet, dann läßt man alle Sorgen fahren. Es fehlt dann nur noch die nötige Begleitung. Du verstehst mich?!

Aber vielleicht ist es gut so. Ich will mich doch ganz ernsthaft meinem Studium widmen und kann deshalb keine Ablenkung brauchen. Sei jedoch zufrieden. Abends, wenn die Sonne untergegangen ist, läßt sich immer noch ein Viertelstündchen zum Nachdenken herausschlagen. Und dann kommst Du nicht zu kurz.

So geht man also zwischen den haushohen Wänden der Arbeit einher und staunt, noch mehr darüber, daß man das später auch alles beherrschen soll. Ich glaube, daß ich noch ein guter Philosoph werde. Denn es heißt doch: Der Anfang aller Philosophie ist das Staunen. Das tue ich wahrhaftig in vollem Ausmaß. – Später, wenn der Stoff einmal gesichtet ist und ich mich hindurchgewühlt habe, will ich Dir mehr davon berichten. Vorläufig soll Dir dieser Brief nur zeigen, daß ich noch am Leben bin und dich nicht vergessen habe. Aber wenn es möglich ist, vergiß auch mich nicht und drücke mir ab und zu die Daumen. Denn es gibt immer noch einige Klippen zu umschiffen. Heute in acht Tagen, am 14., steige ich schon in die erste Prüfung. Vielleicht hilft mir Dein Gedenken ein bißchen.

Sei also mit den Deinen recht herzlich gegrüßt,

Dein Gert.

 

Freiburg, 13.6.46

Meine liebe Hilde!

Als ich gestern aus meinem kurzen Pfingsturlaub in Worms wieder hier eintraf, fand ich Deine liebe Post  vor. Ich dachte schon, Du hättest Dich vergessen, und war mächtig böse auf Dich. Aber jetzt hat sich ja alles aufgeklärt. Vor allem danke ich Dir für deinen Geburtstagsgruß. Heute ist ja wieder einmal der 13. Und so ist es ganz sinnig, daß ich mich jetzt bedanke. Wie schnell vergeht doch die Zeit! Ich war kaum ein wenig an den Betrieb an der Uni gewöhnt, als ich zum Studenteneinsatz berufen wurde und beinahe 2 Wochen schippender- und klopfenderweise verbringen mußte. Gleich danach ging es nach Hause; denn es war mittlerweile Pfingsten geworden. Die 4 Tage zu Hause genügten gerade, um den Magen wieder einmal vollzumachen und allen möglichen Leuten Anstandsbesuche zu machen. Jetzt habe ich mich endlich richtig ins Studium gerannt und glaube, das die nächsten 7 Wochen bis Semesterschluß wie im Fluge vergehen werden.

Ich habe natürlich viel nachzuholen und besonders die Prüfung am Ende des Semesters soll so gut wie möglich ausfallen. Da bleibt natürlich nur wenig Zeit für mich selbst. Und ebenso macht mir das recht wenig Spaß.

Der einzige Bundesgenosse der Arbeit ist das Wetter. Es regnet und stürmt, daß man sich kaum vors Haus traut und sich hinter seine Folianten vergräbt. Hoffen wir, daß etwas herausspringt.

In Worms war ich auch mal wieder ordentlich baden. Auch in Amerika war ich drüben und beinahe hätten mich die lieben Ammies mit einem Jeep überrascht. Es wäre doch recht unangenehm gewesen, in Badehosen ins Gefängnis zu wandern. Drum bin ich auch wie Winnetou zum Ufer zurückgekrochen und habe mich versteckt, bis die Kaugummileute vorbeigerauscht waren.

Auch in Dittelsheim war ich, habe allerdings nur mit Karlchen gesprochen. Aber der wird mit zunehmenden Alter auch nicht gesprächiger. So konnte ich nur das Gröbste erfahren. Als ich hörte, daß Du so lange da warst, konnte ich mir dann die Gründe für Dein Schweigen unschwer zusammenreimen.

Heute abend habe ich noch zwei Vorträge über Demokratie und ihre Auswirkung auf das Recht. Die Kenntnis dieser Dinge ist für mich ja von ungeheurer Bedeutung und deshalb muß ich nun schließen.

Grüße bitte Frankfurt und Deine Eltern von mir und empfange auch von mir lebe Grüße,

Dein Gert.

 

 

Freiburg, 27.7.46

Meine liebe Hilde!

Ich bin in Angst um Dich. Was hast Du nur für seltsame Gedanken? Wenn ein nettes junges Mädel vom Tanzen kommt, sollte es doch über andere Dinge nachdenken. Warum sollten wir uns nicht wiedersehen? Die Welt ist so klein. Die Zonengrenzen halten auch nicht ewig vor. Also heißt es ein wenig Geduld haben. Ich hoffe doch, daß Du inzwischen Deine Melancholie wieder verloren hast. Sicher war uns etwas „über die Leber gelaufen“. Aber wo käme man denn hin, wenn man alles , was da kreucht und fleucht, beachten wollte. Laß es doch laufen. Sing Dir ein Lied – Dukennst ja so viele schöne -, oder pfeif drauf; es ist alles gleich, es wird Dir schon drüber weg helfen. Ich mache es genau so.Ich habe hier auch täglich Scherereien. Aber die Leute erscheinen mir viel zu wertlos, als daß ich meine kostbare Nervenkraft für sie aufopfern sollte. Ich arbeite meinen Teil und den richtig; das genügt. Was darüber ist, das ist vom Übel.

Du merkst vielleicht, daß ich in besonderer Stimmung bin. Übermorgen geht es nach Hause. Das Semester habe ich mit Glanz und tollen Zeugnissen hinter mich gebracht. Jetzt geht der andere Teil des Lebens los, der darin besteht, das nächste Semester „voorzubereiten“. Vorerst fahre ich nach Worms. Natürlich habe ich jetzt viel zu tun und deshalb muß dies Briefchen ganz kurz sein. Doch Du schreibst mir gleich in die B…straße, dann werde ich Dir wieder ausführlich antworten.

Viele liebe Grüße für heut‘

Dein Gert.

 

Worms, 22.8.46

Meine liebe Hilde!

Heute an Deinem Geburtstag will ich noch ein Stündchen ganz den Gedanken an Dich widmen und Dir auch für Deine liebenswürdige Einladung danken. Leider ist es mir nicht möglich, mich frei zu machen, um Dir einen Besuch abzustatten. Obwohl ich eigentlich Ferien habe und ausspannen sollte, bin ich garnicht Herr der Lage. Der Alltag mit seinen vielen nichtigen und in ihrer Masse doch wirkenden Aufgaben hat mich ganz umfangen. Morgens bin ich gewöhnlich hier auf dem Amtsgericht und nehme an Verhandlungen teil. Nachmittags arbeite ich ein wenig in meinen Büchern oder unternehme eine Streiffahrt durch die nähere Umgebung aus bekannten Gründen. Nur einige wenige Nachmittage, die besonders schön waren, habe ich mir gewaltsam zum Baden freigemacht. Weil das Wetter in den letzten Tagen nicht ganz einwandfrei war, habe ich sogar vorgezogen, in Worms weiterzuarbeiten und nicht in Dittelsheim die Zeit zu verbummeln. Ich muß jetzt morgen unbedingt hin, zumal ich erfuhr, daß Morch am Sonntag ein Abschlußkränzchen seiner Tanzstunde aufziehen will. Da komme ich endlich auch mal wieder zu einem Tanz. Ich sehne mich richtig danach. Freilich ist die Sache von der Militärregierung noch nicht genehmigt; der fromme Bürgermeister, der den Tanz verabscheut wie der Teufel, hat anscheinend seine Hände drin. Morch selbst hat mir sein Leid geklagt. Der arme Kerl!

Ja, gern hätte ich Dich besucht, aber abgesehen von den Paßschwierigkeiten (ich habe nur einen für die südfranzösische Zone) – sitze ich hier fest wie die Fliege im Spinnennetz. Je mehr ich wurschtele, desto mehr Fäden entdecke ich. Du mußt also mit meinen Grüßen vorlieb nehmen. Sei nicht böse darüber, bitte! Ich denke recht lieb an Dich; Du wirst es merken, ja? Aber leider ist unsere Zeit nicht geschaffen zum Ausruhe und ich persönlich fühle mich am wenigsten wohl, wenn ich zusehe, wie andere arbeiten. Aber ich hoffe doch, daß wir nach einer gewissen Spanne auch wieder die volle Berechtigung in Anspruch nehmen können, einmal ganz allein für uns leben, ohne durch das ruhelose Treiben der Welt gestört zu werden.

Dann, liebe Hilde, wollen und werden wir den Tag, den ich heute versäumen muß, nachholen.

Es ist Dein Ehrentag und hoffentlich hast Du ihn ordentlich begangen.

Wenn es möglich ist, daß gute Wünsche aus der Ferne zu dem Gelingen eines Tages beitragen können, dann kann nichts schiefgehen.

Dich grüße ich recht herzlich und

bleibe   Dein Gert

 

 

Dittelsheim, 1.9.46

Meine liebe Hilde!

Sonntagmorgen in Dittelsheim! Seit über acht Tagen bin ich nun hier. Die Zeit war ausgefüllt mit der üblichen Arbeit, über die ich Dir nicht zu schreiben brauche. Du kennst sie selbst. Vielmehr wird Dich das gesellschaftliche Leben hier interessieren. Ich will Dir in aller Kürze davon berichten. Am Freitag vor acht Tagen kam ich hierher. Die erste Überraschung war am Samstagmittag (!) die Mitteilung, daß die Tanzbelustigung der „Kerb“ und damit sie selbst am darauffolgenden Sonntag stattfinden werde. Ich fuhr sofort nach Hause und kam am Sonntagfrüh um ½ 5 Uhr mit meinem besten Anzug nach Dittelsheim zurück. Die Tanzmusik, von Meister Morch mühsam inszeniert, fand in Verbindung mit dem Tanzkränzchen der Tanzstunde im „Saale Metzler“ statt. Um 16 Uhr ging es los und bis zum Montagfrüh um 6 Uhr durch. Ich war gespannt wie ein Regenschirm, aber es gab eine Enttäuschung. Die Musikanten strengten sich gewaltig an, besonders Meister Rink mit seiner Posaune, aber es blieb unter Morchs Leitung doch nur bei Altvätertänzchen. Ich ging in der Nacht zweimal nach Hause, um an Webers Radio flotte Musik zu hören. Die zweite Enttäuschung war unsere „Kippe“* Hans und Werner, die Stimmungsmacher, sind ausgeschieden und zu ihren alten Lieben zurückgekehrt. Dadurch ist in dem altgewohnten Trubel Ruhe eingetreten, die einzelnen Pärchen haben sich herauskristallisiert und jeder andere wird als Fremdkörper empfunden. Der einzige „Alte“ ist Albert. Er kann es sich ja leisten. Die anderen streben mit Riesenschritten der Verlobung zu. Ich wünsche es ihnen ja wohl recht bald und freue mich darüber, aber ich bedauere doch, daß der alte herzliche Ton nicht mehr so ohne weiteres möglich ist. Aus diesem Grund verlief die erste Kerwenacht etwas einseitig. Aber es war trotzdem recht nett. Man muß halt zufrieden sein. Es ist nur schade, daß Du nicht dabei warst. Wahrscheinlich wird die eigentliche Kerbe in 14 Tagen wegen der Wahl ausfallen. Aber trotzdem gehen natürlich Gerüchte…

Aber schon die Paßschwierigkeiten sind ja kaum zu überbrücken. Zudem weiß man garnicht, was die seltsame Schaffung des Landes Rheinpfalz im Gefolge hat. In der vergangenen Woche war ich noch einmal mit dem Verein beisammen, bei Deboben zum Zwetschgenkernen. Es dauerte aber bei weitem nicht so lange wie im vorigen Jahr. Und es war auch viel weniger nett. Ich bin eben fremd geworden. Für Dich ist es aber sicher anders. Drum rate ich Dir, komme mal kurz vorbei. Du wirst es schon schaffen. Ich selbst habe noch 5 Wochen Ferien, die ich wahrscheinlich in Worms verbringe. Dann können auch wir uns wiedersehen.

Hast Du keine Lust?

Wir können doch über alles, was wir in Briefen nur kurz andeuten können, ausführlich plaudern.

Herzliche Grüße, Gert

 

* Kippe - ein Wort aus dem Jenischen /Rotwelschen, heute würde man eher Clique sagen

 

Freiburg, 1. Advent 1946

[01.12.]

Liebe Hilde!

Es ist ganz rührend von Dir wie Du um mich besorgt bist. Deine Briefe und das köstliche Paket habe ich mit großer Freude erhalten. Der Kuchen, der in der heutigen Zeit und in unserer Zone eine unschätzbare Kostbarkeit darstellt, trug ganz wesentlich dazu bei, meine Adventsstimmung zu einem ungeahnten Höhepunkt kommen zu lassen. So feierlich wie heute morgen war es mir schon lange nicht mehr zumute. Ich danke Dir. Doch ich fürchte, daß Du ein wenig zu viel zwischen meinen Zeilen liest. Denn so schlecht, wie Du annimmst, geht es mir wirklich nicht. Dank der Güte meiner Wirtin ist es mir doch noch ein Leichtes, mein Leben zu fristen. Wenn meine Stimmung in den letzten Briefen etwas zu schwarzseherisch gewesen sein sollte, dann ist es wohl zum größten Teil auf die Arbeitsüberlastung zurückzuführen. Ich bin aber jetzt in der glücklichen Lage, die Früchte meiner Arbeit zu ziehen, und es ist doch immer ein schönes Gefühl, in der Ernte die Größe und Schwere der Mühen wiedererkennen zu können, die hinter einem liegen. Deshalb bereue ich ich es garnicht, daß ich mich so sehr auf die Arbeit gestürzt habe. Allerdings ist es jetzt auch nötig auszuspannen. Ich freue mich mächtig auf die Heimreise, die ich wahrscheinlich morgen in acht Tagen antrete. Die erste Semesterhälfte geht am Freitag zu Ende.

Dein Lebenskreis ist, wie ich sehe, immer noch der gleiche. Ich kann Dich sehr gut verstehen, daß Du die Stellung unter allen Umständen halten willst. Aber trotzdem wird die Stellung nicht so vorzüglich sein, daß Du ohne Verlust abgehen könntest. Lege es bitte nicht als Undankbarkeit aus, wenn ich Dich bitte, in Zukunft den Überschuß lieber Deinen Angehörigen zukommen zu lassen. Ich laß‘ mich nur von der Erfahrung leiten, daß jeder gerade für sich selbst zu kämpfen hat. In der ersten Linie mußt Du aber für Deine Familie sorgen. Ich schlage mich schon durch.

Laß Dich und Deine Eltern und Geschwister nun herzlich grüßen.

Eine frohe Adventszeit!

Dein Gert

 

 

 

 

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